Hallo liebe Mitmenschen! Mit diesem Text möchte ich einen hilfreichen Beitrag leisten. Ich selber habe von den Einträgen in diesem Forum sehr profitiert, indem mir klar wurde, dass ich mit meiner Geschichte nicht alleine bin. Dass ich nicht verrückt bin. So hatte ich eine Grundlage, um einen heilsamen Prozess zu durchlaufen. Nun hoffe ich, mit meiner Geschichte denjenigen zu helfen, die noch mitten im Elend stecken. Es tut gut, von anderen zu hören, die ein ähnliches Schicksal teilen. Das Schicksal der emotionalen Erpressung durch die Elterngeneration.
Prolog:
Er möchte nicht. Auf keinen Fall. Denn er mag es nicht, das Essen, das da vor ihm auf dem Teller
liegt. Doch Regel ist Regel. Erst werden die Reste vom Vortag aufgegessen, dann darf sich jeder an
der frischen Mahlzeit bedienen. Mutti hat sich diese Regel ausgedacht, damit sie als Familie kein
Essen wegwerfen. Das kann er schon verstehen, er ist ja schon groß. Und trotzdem hat er einfach
keine Lust auf Stielmus, deshalb ist er jetzt bockig. Leider weiß er aber schon aus Erfahrung, dass
das nichts bringen wird. Letzten Endes wird sich sein Gewissen melden, weil Mami immer so
traurig ist, wenn er nicht tut, was sie möchte. Also nimmt er den Löffel in die rechte Hand, hält sich
mit der linken Hand die Nase zu und schaufelt so schnell er kann den Teller leer. Es ist so ekelhaft.
Endlich hat er den letzten Löffel runtergewürgt. Geschafft. Die Kinder in Afrika sind gerettet,
morgen scheint die Sonne, und er darf endlich ein Stück vom leckeren Hackbraten essen. Es gibt
nur ein Problem: Er ist dreiundzwanzig.
Dies ist meine Geschichte. Sie handelt von meiner Ex-Freundin und ihrer Familie. Von
Engstirnigkeit und emotionaler Erpressung. Von elterlicher Kontrolle und Einmischung. Ich will
nicht sagen, dass die Beziehung zu Melina für immer gehalten hätte. Vielleicht wären wir zu einem
späteren Zeitpunkt an unseren Unterschieden gescheitert. Vielleicht auch nicht. Doch der
tatsächliche Zeitpunkt und die Art und Weise, wie es letztendlich zum Bruch kam, geht eindeutig zu
Lasten ihrer Eltern. Durch sie war Melina gezwungen, sich zwischen ihnen und mir zu entscheiden.
Ich möchte nun Stück für Stück aufzeigen, wie es dazu kam.
Ich war 26 als wir uns kennen lernten. Melina 21. Eine Actionfreizeit im warmen Spätsommer am
Starnberger See. Sechs Wochen später waren wir zusammen. Wir schienen wie für einander
geschaffen, bei all den Gemeinsamkeiten. Das sahen nicht nur wir so, die wir unter dem Einfluss
von Serotonin und Dopamin, den zwei körpereigenen Verliebtheitsdrogen standen, sondern auch
unsere Freunde und Familien. Ich verstand mich blendend mit ihren Eltern, wir verbrachten sehr
viel Zeit zu viert. Monatelang war in unserer Fernbeziehung alles in bester Ordnung. Dachte ich
zumindest. Bis zum großen Knall haben sich, von mir unbemerkt, einige Dinge abgespielt, die ich
damals unter 'niemand ist perfekt' verbuchte, heute jedoch mit anderen Augen sehe. Melinas Mutter
hatte schon sehr früh damit begonnen, mich zu ihrem Lieblings-Schwiegersöhnchen formen zu
wollen. Sie hat ja nur die eine Chance, denn Melina ist neben zwei älteren Söhnen ihr einziges
Mädchen.
Es beginnt ganz harmlos damit, dass sie mich neu einkleidete. Von einem gemeinsamen Einkauf mit
Melina brachten sie mir einige Pullover mit. Sie sagten, ich könne mir welche aussuchen, oder auch
keinen, sie bringen sie einfach wieder zurück. Für mich war es ein super Service, denn ich hasse es,
Klamotten zu kaufen. Also gab ich ihnen das Geld und behielt alle Pullover. Es waren sogar welche
dabei, die ich selber nie angezogen hätte. Aber Melina zuliebe überwand ich meine modischen
Vorstellungen. Ich gehe davon aus, dass ich mit solch einem Verhalten die Grundlage für die
späteren Kontrollversuche der Mutter legte, nach dem Motto: 'Wenn ich mein Schwiegersöhnchen
schon einkleide, kann ich es auch sonst zurechtbiegen.'
Eines Tages legte sie mir nahe, ich solle doch mal wieder zum Friseur gehen. Nach einem fünf
minütigen Vortrag über die Nachteile meiner Frisur, den sie in Anwesenheit der ganzen Familie
hielt, schaltete sie auch ihren Ehemann hinzu, der brav nickte und ihre Argumentation bekräftigte.
Routiniert, weil bereits oft getan, antwortete ich darauf mit ein paar freundlichen Sätzen und
versuchte in aller Höflichkeit zu verdeutlichen, dass ich schon immer meine eigene Linie in Bezug
auf meine Haare gefahren bin. Ihr nächster wohl gemeinter Ratschlag bestand aus einem fünfzehn
minütigen Monolog, in dem sie mir nahe legte, wie ich mein Studium am besten und schnellsten zu
Ende bringen könne. Im Leben müsse man eben manchmal auch so schöne Dinge wie Ehrenamt
beiseite legen, um sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Zielstrebigkeit war das
Stichwort. Auch hier ging ich in meiner Antwort freundlich auf die Vielfalt aller Menschen und
ihrer Lebenswege ein.
In der nächsten erwähnenswerten Episode saß ich auf der Couch im Wohnzimmer. Die Mutter betrat
den Raum mit den Worten: „Komm mal mit, ich muss dir etwas zeigen!” Man muss hierbei
hinzufügen, dass es jedes mal einem Feuerwerk gleichkommt, wenn sie einen Raum betritt. Sie
redet sehr viel. Und sehr schnell. Und sehr aufbrausend. Immer. Nach meinem ersten Treffen mit ihr
war mir sofort bewusst, dass es mich viel Kraft kosten würde, diese Frau zur Schwiegermutter zu
haben. Während sie mich nun aufforderte, ihr zu folgen, nahm sie mich bei der Hand und zog mich
hinter sich her durchs Erdgeschoss. Es fühlte sich sehr sonderbar an, so als wäre ich ein Kleinkind
oder ein Hund. Da ich in konfrontativen Momenten jedoch eher schüchtern bin und vieles vorerst
über mich ergehen lasse, ließ ich auch dies mit mir machen. Sie schleppte mich ins Badezimmer bis
vor die geöffnete Toilettenschüssel. Dann wies sie mich darauf hin, dass im Hause Müller der
Toilettendeckel immer herunter geklappt wird und ich dies in Zukunft doch bitte beachten solle.
Inhaltlich stellte ihre Bitte kein Problem für mich dar, also versprach ich ihr, mich darum zu
bemühen. Doch es blieb ein fahler Beigeschmack. Konnte sie mir dies nicht einfach nur sagen, wie
man es unter Erwachsenen nun einmal macht? Wozu die entwürdigende Gassi-Aktion?
Es kommt jedoch noch besser. Meine erste Begegnung mit der im Prolog beschriebenen Essens-
Regel verlief folgendermaßen: Zu einem Mittagessen gab es Burger, jedoch waren noch Reste von
Stielmus, einem spinatähnlichen Gericht, übrig. Die Mutter erklärte mir die Regel und dass sie sie
befolgen, seit die Kinder klein waren. Sie fing also damit an, jedem zwei Löffel davon auf den
Teller zu schöpfen, denn hierbei gelte gleiches Recht für alle. Geteiltes Leid sei halbes Leid. Beim
Thema Essen von Leid zu sprechen, finde ich ja schon grenzwertig. Wurde denn der Mensch für das
Essen geschaffen? Oder das Essen für den Menschen? Nun war also mein Teller an der Reihe und
nachdem sie den ersten Löffel abgeladen hatte, bat ich sie freundlich darum, es vorerst dabei zu
belassen, denn ich wolle das für mich neue Gericht erst einmal probieren. Sie entgegnete, dass es in
ihrem Hause noch nie Extrawürste gegeben habe und klatschte die zweite Ladung umso energischer
auf meinen Teller. Im Grunde bin ich ein Harmonie bedürftiger Mensch und darum bemüht, das
Gute in allen Menschen zu sehen. Doch in diesem Moment hätte ich sie am liebsten totgeschlagen.
Oder in ihrem Stielmus ertränkt. Leider war ich wie so oft zu feige, meinen Ärger auszusprechen.
Aber natürlich haben es trotzdem alle mitbekommen. Die Stimmung war plötzlich sehr vereist.
Wutentbrannt aß ich den Teller leer. Die einzige Kritik, zu der ich mich in meiner
Harmoniebdürftigkeit aufraffen konnte, war der sehr zynisch gesprochene Satz: 'Na dann haben wir
ja Glück gehabt, dass mir das Essen schmeckt.' In den folgenden Wochen machte ich mir sehr viele
Gedanken darüber und kam zu dem Schluss, dass die Mutter ihre erwachsenen Kinder und
Schwiegerkinder nicht so behandeln kann. Denn es handelt sich um Zwang. Der mag bei
Kleinkindern nötig sein, nicht jedoch bei erwachsenen Menschen. Ich entschied mich dazu, dieses
Spiel nicht mehr mitzuspielen. Auch ich ärgere mich über das leichtfertige Wegwerfen von
kostbaren Lebensmitteln. Und deshalb bin ich ebenfalls dafür, Reste zu verwerten. Noch dazu esse
ich sehr viel und sehr gerne und die Mutter ist eine sehr gute Köchin. Deshalb schlug ich ihr vor, ob
sie die Reste in Zukunft nicht einfach zum Hauptgericht dazustellen und sie anbieten möchte. Ich
garantierte ihr, dass ich sie liebend gern essen würde. Doch dies war für sie keine Option. Wo käme
man denn da hin, wenn jeder tut und lässt, was er will? In der Folgezeit diskutierten wir sehr viel
über Zwang und Freiheit in Beziehungen zwischen eigenständigen Subjekten. Doch weder ich
konnte ihre, noch sie meine Logik nachvollziehen. Also entwickelte ich einen sehr unschönen, aber
bestmöglichen Kompromiss. Wenn es noch einmal zu einer Reste-Situation käme, sagte ich ihr,
würde ich mich nicht dazu zwingen lassen, diese zu essen. Wir sind alle freie Menschen. Um dann
aber fair zu sein und mir nicht die Rosinen heraus zu picken, würde ich auch auf die Hauptmahlzeit
verzichten. Sie empfand meine Reaktion als sehr beleidigend und sagte mir wutentbrannt, dass sie
damit emotional nicht klar käme. Aufgrund ihrer Hochsensibilität, die sie sehr gerne als
Entschuldigung für vieles heranzieht, könne sie so nicht mit mir an einem gemeinsamen Tisch
sitzen. Gar nicht mehr. Denn Essen sei Gemeinschaft und mit diesem Verhalten würde ich die
Gemeinschaft zerstören. Noch dazu sie als Köchin beleidigen. Deshalb habe sie sich dazu
entschlossen mich und Melina unter diesen Umständen nie wieder zum Essen einladen zu können.
Als erste Reaktion sagte ich nur, dass das für mich in Ordnung sei und das akzeptieren würde. Mit
meinem jetzigen Wissensstand denke ich, dass es sich bei ihrer Drohung um emotionale Erpressung
handelte. Sie fühlte sich der Situation gegenüber machtlos und merkte, dass sie mich nicht formen
kann, wie sie möchte. Also bestrafte sie mich, und noch viel mehr ihre Tochter, mit
Gemeinschaftsentzug, in der Hoffnung, ich würde meine Meinung ändern und in Zukunft brav
Reste essen. Dies war für mich jedoch keine Option. Das hatte nichts mehr mit freier
Menschenwürde zu tun. Für Melina war dieser Zustand selbstverständlich undenkbar. Wie sollte sie
jemals einen Mann heiraten, mit dem sie niemals zusammen mit ihren Eltern gemeinschaftlich
essen konnte? Sie wusste, ihre Mutter würde das durchziehen. Denn diese Frau lebt mit sehr vielen
Menschen in Streit und absolutem Kontaktabbruch. Dass Familien zerbrechen, ist für Melina also
bittere Realität. Völlig verständlicher weise bearbeitete sie mich also die nächsten Wochen und
flehte mich an, mein Vorhaben zu ändern. Es tat mir im Herzen weh, das zu sehen und ich
hinterfragte mich sehr kritisch. Ob ich nicht zu stolz sei. Oder die Eltern nicht respektiere. Aber ich
konnte mir einfach nicht vorstellen, mich solch einer freiheitsverachtenden Regel zu beugen. Als
die Situation sich immer mehr zuspitzte, gab ich letztendlich doch um 'des lieben Friedens willen'
nach. Ich wollte nicht schuld an diesem Zerwürfnis sein. Also ordnete ich mich aus Nächstenliebe
unter und versprach Melina, meine Meinung zu ändern. Beim nächsten Krisengespräch mit ihren
Eltern ging die Mutter dann darauf ein und sagte in fast schon bockigem Ton: 'Nein, das kann ich
jetzt auch nicht mehr. Denn jedes Mal, wenn du Reste essen würdest, wüsste ich, dass du das nicht
freiwillig machst und innerlich protestierst. Wegen meiner Hochsensibilität komme ich damit nicht
klar.' Das Ergebnis war also, egal was ich getan hätte, ich könnte nie wieder mit meinen
Schwiegereltern an einem Tisch essen. Meiner Vermutung nach wollte die Mutter mich zu dem
Zeitpunkt bereits absägen. An zu vielen Stellen hatte ich Rückgrat bewiesen und mich nicht von ihr
verbiegen lassen. Sie braucht jedoch einen Schwiegersohn, den sie nach Belieben formen kann.
Also war ihr Essens-Streik eine Botschaft an ihre Tochter: 'Mit diesem Typen an deiner Seite wirst
du mit mir keinen Frieden mehr haben.'
Die Situation im Prolog beschreibt übrigens das Verhalten ihres erwachsenen Sohnes. Sie schlug
mir vor, es doch so wie er zu machen und mir einfach die Nase zuzuhalten, wenn ich die Reste nicht
mag. Seit diesem Moment hatte ich keine Achtung mehr vor ihm als Mann.
Überhaupt hat sie mich sehr gerne und viel mit ihren Söhnen verglichen. In so vielen Fällen könne
ich mir doch ein prima Beispiel an diesen Vorzeigesöhnen nehmen. Ich sollte also so werden wie
sie, die ihr Leben lang von Mutti geformt und konditioniert wurden.
Dass sie mich gerne zurechtstutzen wollte, wurde auch noch einmal sehr deutlich, als sie mir
vorwarf, ich würde all ihre Anmerkungen so ignorant vom Tisch wischen und gar nicht darauf
eingehen (siehe Haare, Studium). Es stellte sich heraus, dass die einzig adäquate Reaktion gewesen
wäre, zum Friseur zu gehen und zielstrebiger zu studieren. Sogar meine Socken hätte ich auf rechts
drehen müssen. Während des ersten Krisengesprächs bemerkte sie, dass meine Socken, die sie mir
gestrickt hatte, auf links gedreht waren. Ich bedankte mich für den Hinweis und widmete mich
wieder dem sehr mühsamen und wichtigen Gespräch. Später hielt sie mir vor, warum ich denn nicht
gleich aufgesprungen sei, um die Socken umzudrehen. Sie hätte das auf jeden Fall so gemacht.
Noch lange bevor mir klar wurde, was in dieser Familie abläuft, hatte mein Unterbewusstsein schon
Lunte gerochen. Ich erinnere mich an eine Situation, in der mich ein sonderbares Gefühl überkam,
als ich im Wohnzimmer der Eltern stand. Ich kannte dieses Gefühl von früher. In meiner Kindheit
besuchte ich häufig einen Cousin, der etwas weiter weg wohnte, meistens für mehrere Tage. Da
meine Eltern nicht dabei waren, wurden meine Tante und mein Onkel für die Zeit zu meinen
Erziehungsberechtigten. Sie versorgten mich und sorgten dafür, dass ich ein braves Kind blieb. So
soll es ja auch sein. Nur war ich doch sehr verwundert, als mich mit Mitte zwanzig auf einmal
wieder dieses Gefühl überkam. Diesmal aber im Hause meiner zukünftigen Schwiegereltern. Es
fühlte sich nicht richtig an und doch war es da. Ich machte mir jedoch keine weiteren Gedanken
darüber. Aber mein Unterbewusstsein hatte bereits begriffen, wo ich gelandet war.
Denn schon ganz zu Beginn der Beziehung offenbarte die Mutter ihr vereinnahmendes Wesen.
Melina besuchte mich zu meinem Geburtstag und hatte sich für mich ein schönes Geschenk
überlegt. Kurz bevor sie zu Hause aufbrach, überreichte ihre Mutter ihr ebenfalls ein Geschenk an
mich. In Melinas Augen war es noch besser und schöner als ihr eigenes und sie fühlte sich dadurch
übertrumpft und sehr verletzt. Es kam zu einer Auseinandersetzung, mit dem Ergebnis, dass sie es
trotzdem mitnahm, sie aber im Unfrieden auseinander gingen. Während der einstündigen Autofahrt
versuchte die Mutter unentwegt, Melina zu erreichen und schrieb ihr viele Nachrichten. Der Inhalt
ist mir leider nicht mehr bekannt, doch das Verhalten der Mutter führte dazu, dass Melina mir dieses
Geschenk schweren Herzens auch überreichte. Sie erzählte mir von ihren Sorgen und ich gab mir
große Mühe, ihr eigenes Geschenk viel mehr wertzuschätzen, weiß aber nicht, ob mir das gelang.
Nicht lange danach standen Weihnachten und Silvester vor der Tür. Familie Müller erwartete
Besuch aus Peru. Die vier Frauen sprechen nur Spanisch und Englisch und sollten für zwei Wochen
bleiben. Nun machte sich die Mutter große Sorgen, dass sie und ihr Mann alleine nicht mit dem
Besuch klar kämen, weil sie ja nicht so gutes Englisch könnten. Also wurden Melina und ihr Bruder
dazu angehalten, den Großteil dieser zwei Wochen zu Hause zu verbringen. Ich weiß nicht, wie
genau die Gespräche abliefen, aber Melina hatte keine andere Wahl. Sie war an ihr Zuhause
gebunden. Vermutlich hat die Mutter ihnen vorgeführt, wie furchtbar sie darunter leiden würde,
alleine mit diesen Menschen klarkommen zu müssen. Das ist ja das Prinzip der emotionalen
Erpressung: Der Täter erzeugt im Opfer schlechte Gefühle: Schuldgefühle, Angstgefühle, oder
falsche Pflichtgefühle.
Mein ursprünglicher Plan für Silvester bestand darin, mit meinen Schulfreunden zu feiern und
Melina mitzunehmen. Dies war nun unmöglich. Sie konnte nicht von Zuhause weg. Nun überlegte
ich also, ob wir dann getrennt feiern würden, denn die Feier mit den Schulfreunden war schon
länger vorgesehen. Melina war damit nicht einverstanden und setzte mich wiederum unter
emotionalen Druck. Sie sagte mir, dass sie sich grad nicht sicher sei, ob sie mich noch lieben würde.
Dies löste in mir natürlich Angst vor einer Trennung aus. Kurze Zeit später gab ich also nach und
feierte im lieben Kreise meiner Schwiegerfamilie. Zwischen Melina und mir war dann wieder alles
in bester Ordnung. Heute weiß ich durch diese und andere Situationen, dass Melina die emotionale
Erpressung nicht nur übersieht und akzeptiert, sondern auch selber anwendet. Es ist für sei ein
legitimes Mittel. Zum Beispiel verlangte sie von mir, dass ich erst meine BaföG-Schulden tilge,
bevor wir heiraten. Sie sagte ganz klar: 'Mit 3.000 Euro Schulden heirate ich dich nicht.' Diese
Forderung hat sich für mich immer sehr falsch angefühlt, doch das konnte sie nicht nachvollziehen.
Hätte sie mich darum gebeten, dies ihr zu liebe zu tun, hätte ich mich darum bemüht. Aber sie
wollte aus ihrer Forderung keine Bitte machen. Heute, wo ich diesen Sachverhalt viel objektiver
betrachten kann, erscheint mir diese Forderung noch viel schrecklicher als damals.
Während der zwei Wochen mit dem Besuch aus Peru besuchte ich Melina für einige Tage, da sie ja
nicht zu mir kommen konnte. In dieser Zeit 'überraschte' uns ihre Mutter mit einer tollen Nachricht:
Die Peruaner würden spontan Freunde in der Schweiz besuchen und somit könnten Melina und ich
gerne auch wegfahren und tun, was wir möchten. Ihre Majestät stellte ihre Untergebenen in ihrer
unermesslichen Güte für einige Tage frei. Ich wundere mich, wie blind ich damals gewesen bin.
Genau genommen genau so blind, wie Melina und ihre Brüder es noch heute sind. Sie sind mit dem
Verhalten ihrer Mutter aufgewachsen, haben es aufgesogen und verinnerlicht. Es ist für sie normal.
Als ich Melina nach der Trennung einen Brief schrieb, indem ich meine neu gewonnenen
Einsichten über ihre Mutter möglichst schonend formulierte, zerriss Melina den Brief. Das sagte sie
mir später am Telefon. Trotz der großen Beleidigung, die sie durch diesen Brief empfunden hatte
(wie könne ich so etwas Böses über ihre Mutter sagen), war sie froh darüber. Denn nun habe sie
einen rationalen Grund, nie wieder zu mir zurückzukommen, falls sie ein emotionales Verlangen
danach spüren sollte.
Als Melina und ich irgendwann vom Heiraten redeten, bekamen ihre Eltern Wind davon. Also
ergriffen sie einige Maßnahmen, damit alles nach ihrer Vorstellung läuft. Sie schenkten uns einen
Ehe-Ratgeber, von dem sie selber sehr begeistert waren. Ich empfand es als eine sehr nette Geste
und das Buch war auch wirklich gut. Doch als ich eines Tages mit Melina über ein anderes Buch
sprach, sagte ich zu ihr, dass man jedes Buch kritisch lesen muss, da jeder Autor auch nur ein
fehlbarer Mensch ist. Ihre Mutter bekam dies mit, ohne aber zu wissen, um welches Buch es geht.
Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, erntete ich für den Bruchteil einer Sekunde einen sehr
bösen Todesblick von ihr. Ich gehe davon aus, dass sie dachte, es gehe um ihren heißgeliebten Ehe-
Ratgeber.
Als nächstes wollten sie ihrer Tochter klarmachen, dass sie als Ehefrau höchstens eine 50%-Stelle
annehmen kann. Deshalb redeten sie auf sie ein und als sie keine großartige Reaktion und vor allem
keine Einsicht erzeugen konnten, gingen sie praktischere Wege. Melina wurde dazu verdonnert, von
nun an alleine in der Anliegerwohnung des Hauses zu wohnen. Damit sie dort dann lernt, dass
Haushalt und eine 100%-Stelle nicht zusammen passen. Melina war tief verletzt, weil sie kein
Mensch ist, der alleine leben kann. Sie war dann tatsächlich auch sehr gefordert mit Arbeit,
Haushalt und Fernstudium. Irgendwann hatte sie den 50%-Gedanken dadurch auch verinnerlicht
und sich somit erziehen lassen. Als erwachsene Frau. Dass ihre Lebenssituation in einer Ehe
insofern anders wäre, dass sie nicht alleine den Haushalt schmeißen müsste und auch das
Fernstudium dann schon vorbei wäre, interessierte niemanden.
Es ging noch weiter. Für die Eltern war es absolut undenkbar, dass wir heiraten, solange ich noch
Student bin. Darüber kann man ja durchaus verschiedener Meinung sein, jedoch konnten sie es
nicht bei Ratschlägen belassen und griffen auch hier vehement ein. Melina wurde zu der
Hausaufgabe verdonnert, zu überlegen, was das Leben im Detail kostet und diese Liste wurde dann
von ihren Eltern überarbeitet. Damit wollten sie uns klar machen, dass wir erst heiraten könnten,
wenn ich ein volles Gehalt beziehen würde. Die Diskussionen zogen sich wochenlang hin und die
Situation spitzte sich immer weiter zu. Sie wollten von uns hören, ob wir nun wirklich heiraten
wollten, oder nicht. Ich habe mich komplett dagegen gewehrt, solch kontrollierende Eltern in meine
Pläne einzuweihen. Am Ende stellten uns die Eltern vor folgende Entscheidung: 'Ihr geht euern Weg
mit uns, oder ohne uns. Das dürft ihr entscheiden.' Jedoch hätte 'ohne sie' einige Konsequenzen:
-Gemeinschaft ist an Gehorsam gekoppelt. Unser Ungehorsam hätte einen Bruch in der
Gemeinschaft bedeutet
-Melina hätte mit sofortiger Wirkung Miete an ihre Eltern zahlen müssen. Und Melina war sich
durchaus bewusst, dass es nicht nur um die Miete ging. Ihr Status hätte sich von 'Tochter' zu
'Mieterin' geändert.
-Melina würde ihren Eltern 10.000 Euro schulden. Das muss man erklären. Die Eltern haben
Melinas schulische Berufsausbildung finanziert. Sie haben sich dafür die Butter und den Urlaub
vom Brot gespart. Es gab niemals die Vereinbarung, dass Melina die Ausbildungskosten wieder
zurückzahlen müsste. In den zwei Jahren nach Ausbildungsende hatte sie knapp 30.000 Euro
gespart. Die Eltern sagten nun, dieses Geld gebe es nur, weil sie in die Ausbildung investiert hätten.
Und sie waren der Ansicht, wenn wir zu früh heiraten würden (während ich noch studiere), würden
wir garantiert von diesem Ersparten leben. Alles andere konnten sie sich nicht vorstellen. Sie
argumentierten also, dass der falsche Lebensweg, den wir einschlagen wollten, nur möglich war,
weil wir von ihrer Investition profitierten. Also wollten sie für den Fall, dass wir es tatsächlich tun,
ihre 10.000 Euro zurück haben.
Wir hatten also die Wahl: Unseren Weg gehen und somit die Beziehung zu den Eltern zerstören und
Schulden bei ihnen haben, oder brav sein und alles beim Alten belassen. Noch dazu wollten sie eine
schnelle Antwort, setzten uns unter Zeitdruck.
Ich wäre eher gestorben, als diesen Menschen gegenüber Rechenschaft darüber abzulegen, wie ich
mein Leben gestalte und dann auch noch gehorsam zu sein. An dieser Stelle nachzugeben, wäre das
falscheste, was ich je in meinem Leben getan hätte. So hatte es sich angefühlt. Und heute weiß ich,
dass es das tatsächlich gewesen wäre.
Ich ging sogar soweit, dass ich es für das Beste hielt, den Eltern die 10.000 Euro auf jeden Fall zu
geben. Wenn sie das Geld einmal als Druckmittel verwenden, würden sie es wieder tun, war meine
Vermutung. Wenn Melina und ich zum Beispiel oft in den Urlaub gefahren wären, hätte die Mutter
vielleicht eines Tages gesagt: 'Moment mal, wir haben damals für Melinas Ausbildung auf Urlaub
verzichtet und ihr lebt jetzt in Saus und Braus? Dann wollen wir unsere 10.000 Euro zurück.' Diese
oder ähnliche Forderungen hielt ich mittlerweile für höchst wahrscheinlich. Deshalb wollte ich
dieses Druckmittel auslöschen. Das hätte jedoch nicht viel gebracht, es war ja nur eines von vielen.
Melina sollte sich also mal eben zwischen dem Mann, den sie heiraten wollte und ihren Eltern
entscheiden. Völlig verständlich, dass die daran zerbrochen ist. Sie hat nur noch ihre Eltern und ihre
Brüder als Familie. Zum Rest der gesamten Verwandtschaft besteht aus verschiedensten Gründen
kein Kontakt. Meist ist die Mutter ein zentrales Element dieser Zerwürfnisse. Auch ihre direkten
Nachbarn reden nicht mehr mit ihr. Diese Frau zieht eine Spur der Verwüstung durch ihr Leben und
wundert sich, warum sie immer an so komische Menschen gerät. So viel Pech muss man erstmal
haben.
Die Entscheidung für oder gegen die Eltern kam mir sehr sonderbar vor. Ich setzte mich gedanklich
damit auseinander, schrieb alles geordnet auf und kam zu dem Schluss, dass sie uns auf emotionale
Weise erpressen. Emotionale Erpressung war mir noch völlig unbekannt, aber hier war es so
eindeutig, dass man es nicht übersehen konnte. Nachdem Melina meine Notizen gelesen hatte, sagte
sie: 'Oh mann, das ist echt scheiße … denn du hast Recht!' Ich wurde also Zeuge eines höchst
seltenen, lichtdurchfluteten Moments, in dem ihr die Augen dafür geöffnet wurden, was sie schon
ihr ganzes Leben erleiden muss. Nicht lange danach war von dieser Einsicht jedoch nichts mehr
vorhanden; die Erkenntnis wurde um des lieben Friedens willen hinunter geschluckt. Wer will
schon wahrhaben, dass die eigenen Eltern Tyrannen sind?
Eines Tages gab es einen sehr heftigen Streit zwischen den Dreien, ich war nicht dabei. Melina hat
ihre Eltern wohl heftig angeschrien. Ich kann auch sehr gut nachvollziehen, warum. Sie sagte ihnen
in dieser Zeit mehrfach, dass sie das Gefühl hat, nichts mehr richtig machen zu können. Alles war
falsch. Genauso ging es ja auch mir. Jedenfalls war die Mutter vom Verhalten ihrer Tochter sehr
gekränkt und bestrafte sie mit einem zweitägigen Schweigen. Sie hat sie völlig ignoriert, so als wäre
sie nicht da. Keinen Annäherungsversuch durch Melina hat sie akzeptiert. Diese Art der
emotionalen Erpressung funktionierte sehr gut, denn Melina würde alles tun, um ihre Mutter nicht
zu verlieren. Also schrieb sie einen Brief, indem sie alle Schuld auf sich nahm und versprach,
wieder ein braves Töchterchen sein zu wollen. Damit war das Herrschafts-/Knechtschaftsverhältnis
wieder klargestellt und die Mutter belohnte sie mit ihrer Zuwendung.
Als wir eines Tages zu viert darüber diskutierten, wie wir in Zukunft miteinander auskommen
könnten, platzte Melina der Kragen. Sie sagte: 'Mit euch rede ich nicht mehr!' und verschwand nach
oben. Daraufhin sagte die Mutter zu mir: 'Siehst du was mit ihr passiert? So kenne ich sie gar nicht!
Sieh mal zu, dass DU dass wieder hinbekommst.' Scheinbar war ich also schuld an dem ganzen
Schlamassel.
Für mich war diese Zeit der blanke Horror. Ich habe mir das Gehirn verrenkt, um eine Lösung,
einen Kompromiss für all das zu finden. Mir war leider noch nicht bewusst, dass es mit solchen
Menschen keine Lösung gibt. Ich fühlte mich, als würde eine Schlinge um meinen Hals liegen und
sich immer weiter zuziehen. Wenn ich Melina besuchte, klingelte ich nur bei ihr und ging nicht
mehr zu ihren Eltern. Ich wollte nicht mehr mit ihnen sprechen, höchstens über das Wetter. Denn
ich hatte das Gefühl, dass sie mir aus jedem meiner Worte und aus jeder Information wieder
irgendeinen Strick drehen können. Irgendwann äußerte ihr Vater den Wunsch, dass ich doch bitte
erst noch bei ihnen reinschauen soll, es sei schließlich deren Haus. Melina deutete diese Bitte so,
dass er mich gerne sehen will, weil er mich mag. Für mich wirkte diese Aufforderung wie ein
Befehl zum Fahnenappell. Dem bin ich natürlich nicht nachgekommen. Ich habe nicht mal mehr
mein Auto auf deren Grundstück abgestellt, weil ich so unabhängig wie möglich von ihnen sein
wollte. Ich habe leider erlebt, dass materielle Vorteile auch immer an Gehorsam gekoppelt sind. Das
haben sie mir auch explizit so gesagt, nachdem ich sie darauf angesprochen hatte.
Die Eltern sind sehr freigiebig. Sie haben mich von Anfang an sehr warmherzig aufgenommen und
versorgt. Ich durfte bei ihnen jedes Wochenende wohnen. Die Mutter gestattete mir ausdrücklich,
mich jeder Zeit am Kühlschrank zu bedienen und überhaupt das ganze Haus zu durchstöbern. 'Wenn
du was suchst, einfach in die Schränke gucken. Wir haben keine Geheimnisse!' Man wird
vollständig von ihnen vereinnahmt. Eine herrliche Symbiose, die jedoch nicht nur die materiellen
Vorteile, sondern auch absolute Anpassung und Gehorsam bedeutet.
In dieser Zeit hatte ich einen heftigen Albtraum. Ich befand mich in Familie Müllers Garten, als
plötzlich ein Tiger aus deren Gartenhaus ausbrach. Es war eine blutrünstige Bestie. Ich rannte um
mein Leben und konnte mich noch gerade ins Wohnhaus retten. Diesen Traum erzählte ich auch
Melina, ohne ihn zu kommentieren. Nach einer kurzen Pause sagte Melina dann ganz besorgt: 'Der
Tiger ist nicht meine Mutter.' Sie hatte also ganz genau gespürt, was mir durch den Kopf ging. Sie
wollte die Realität aber nicht akzeptieren.
Als Melina dann die Beziehung beendete, war ich zweigeteilt: Einerseits zerriss es mir das Herz in
tausend Stücke, andererseits war ich sehr erleichtert, diese schrecklichen Eltern nun los zu sein. Ich
vergleiche die Situation gerne mit einer Beinamputation: Ich hatte eine Blutvergiftung im Bein,
deswegen musste es amputiert werden. Der Verlust des Beins ist schrecklich, man kann sich kaum
Schlimmeres vorstellen. Wenn das Bein jedoch bliebe, wäre irgendwann der ganze Körper vom Gift
durchzogen. Ich würde sterben. Deshalb ist es gut so, wie es ist.
Die Eltern sagten mir einmal, dass sie jemanden wie mich noch nie erlebt hätten. Auch sie wussten
irgendwann nicht mehr, worüber sie mit mir reden sollten. Denn ich würde überall nur Zwänge
sehen, man könne mit mir überhaupt nicht mehr normal reden. Die Frage ist, wie sie mich erlebt
haben: Ich habe aufbegehrt, mich nicht manipulieren lassen. Sie sind es gewohnt, dass jegliche
Eigenständigkeit von ihnen im Keim erstickt werden kann. Das hat bei mir nicht funktioniert,
sodass ihre Angriffe immer heftiger und mein Widerstand immer größer wurde.
Obwohl mir bewusst war, dass die Eltern im Unrecht sind, hatte ich eines Tages einen
Zusammenbruch. Mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, diese extrem verworrene Situation zu
begreifen. Ich wusste nicht mehr wo oben und unten, oder was Recht und Unrecht ist. Auf einmal
erschien es sehr logisch, dass ich selbst das Problem bin. Die Erkenntnis brach wie ein Gewitter
über mich herein. Es kam während eines Gesprächs mit Melina. Mir fielen verschiedene
Verhaltensweisen aus meiner Kindheit aber auch aus der Gegenwart ein, die nicht richtig sind. An
denen ich zu arbeiten habe. Ein Gedanke fügte sich zum andern und plötzlich war mir völlig klar,
dass ich krank bin. Dass man mit mir keine Beziehung, geschweige denn Ehe führen kann. Dass ich
immer Probleme machen werde. Ich weinte viel und heftig. Melina reagierte sehr verständnisvoll,
war von dem Moment an jedoch vollständig von meiner Krankheit überzeugt. Sie verlangte, dass
ich zu einem Psychotherapeuten ginge, was ich auch tatsächlich gemacht habe. Die Therapeutin
bescheinigte mir jedoch, dass ich kerngesund sei.
Ich habe die Vermutung, dass die Mutter nur weitergibt, was sie selber von ihrer Mutter bekommen
hat. Seit einigen Jahren herrscht zwischen ihnen Funkstille, nachdem sie im gleichen Haus gelebt,
sich aber zerstritten haben. Interessant ist, dass Melinas Mutter in den letzten Jahren eine
interessante Entwicklung durchmacht, auf die sie sehr stolz ist. Sie entdeckt, dass sie ein
eigenständiges Individuum ist. An ihren Wänden hängen Postkartensprüche wie diese: „Stirb nicht
als Kopie, andere gibt es schon genug” oder „Was hindert dich eigentlich daran, du selbst zu sein?”.
Sie wird nicht müde, davon zu erzählen, wie froh sie über diese Einsichten ist. Ich vermute nun,
dass die Gleichzeitigkeit des Kontaktabbruchs zu ihrer eigenen Mutter und dieser persönlichen
Entwicklung kein Zufall ist.
Von Melina weiß ich, dass sie und ihre Brüder sich vor Geschenken der Großmutter sehr in Acht
nehmen. Sie haben erlebt, dass die Großmutter gerne an ihre großzügigen Geschenke erinnert, um
von ihren Enkeln einen Gefallen zu erpressen. Als sie den Dreien eines Tages großzügige
Geldgeschenke machen wollte, haben sie diese sogar abgelehnt, um sich nicht erpressbar zu
machen.
Dieses Verhalten scheint mir als Familienerbe von Generation zu Generation weitergegeben zu
werden. Wie bereits gesagt, habe ich auch bei Melina erste Anzeichen emotionaler Erpressung
wahrgenommen. Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, worunter sie leiden und diesen
Teufelskreis zu durchbrechen.
Gott sei Dank habe ich intuitiv vieles richtig gemacht. Ich habe Rückgrat bewiesen und mich nicht
verbiegen lassen. In dieser Zeit war mir noch überhaupt nicht bewusst, was geschieht. Erst seit der
Trennung verstehe ich durch viel Lesen und Nachdenken die Zusammenhänge. Ich durchstreifte
eines Tages das Internet nach Artikeln zum Thema Mutter-Tochter Beziehung und stieß dann auf die
Themen 'Narzisstische Persönlichkeitsstörung bei Müttern' und 'Emotionale Erpressung'. Ich traute
meinen Augen kaum. Es war, als hätten die Autoren das Verhalten von Melinas Mutter
dokumentiert. Sogar einzelne Zitate konnte ich wortgetreu wiederfinden, wie etwa: 'Es ist doch nur
zu euerm Besten!' Auf einmal ergab alles einen Sinn. Endlich konnte ich meine schrecklichen
Erlebnisse einordnen, endlich hatte ich ein Vokabular, um darüber zu reden. Mir fiel ein riesiger
Stein vom Herzen, es war ein erlösendes Gefühl. Mit dieser Erkenntnis startete ein langer
Verstehensprozess, der bis heute andauert. Wissbegierig saugte ich alles auf, was mir das Internet
und auch Bücher zu diesen Themen sagen konnten.
Natürlich gab es einen Weg, um die Beziehung aufrecht zu erhalten: Mich ganz dieser Familie
hingeben und den Schwiegersohn mimen, den sie sich wünschen. Meine Integrität hätte sich rasant
verabschiedet. Ich wäre bald ein gebrochener Pantoffelheld, der nur noch emotional versteckte
Befehle befolgt. Wie gut, dass ich lange genug durchhalten konnte und dieses widerwärtige
Geflecht, dass die Mutter wie eine schwarze Witwe um mich gesponnen hatte, zerrissen ist. Ich bin
wieder ein freier Mann, lebendig, stärker als zuvor, erfahrener, weiser. Ich konnte bereits sehr von
meinem neuen Wissen im Umgang mit emotionaler Erpressung profitieren. Auch anderen
Menschen konnte ich ein wenig die Augen öffnen, indem ich ihnen meine Geschichte erzählte und
sie sich selbst darin wieder fanden.
Melina hingegen ist, glaube ich, noch tiefer in dieses Netz verstrickt als je zuvor. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass sie seit der Trennung wieder viel Zuwendung und Liebe von ihren Eltern
erhält. Sie ist sich sicher, dass ich einfach wieder mal der falsche Typ war und sie der rosaroten
Brille zum Opfer gefallen ist (Etwas ähnliches sagte sie kurz vor Schluss). Ich wünsche ihr viel
Erfolg bei der Suche nach einem Mann, der alles mit sich machen lässt. Der keine eigenen
Standpunkte vertritt. Sie wird ihn heiraten, für einen Moment überglücklich sein und sich dann zu
Tode langweilen.
Aber das ist nun nicht mehr mein Problem.
…
Mittlerweile ist seit der Trennung ein Jahr vergangen. Ich habe viel gelernt. Über diese Familie, aber auch meine eigene Familie und mich selbst. Sehr hilfreich war die Literatur von Susan Forward, einer Psychotherapeutin (Titel: Emotionale Erpressung, Vergiftete Kindheit, Nächsten Sonntag bringe ich sie um). Mir ist klarer als je zuvor, dass Melina exakt die selben Methoden anwendet und anwenden wird, wie es ihre Mutter tut. Trotz dieser Erkenntnis war ich emotional sehr abhängig von ihr und habe deshalb ein halbes Jahr nach der Trennung noch einmal versucht, sie per Brief um einen Neuanfang zu bitten. Rational war mir bewusst, dass es einem Selbstmord gliche, diese Beziehung noch einmal einzugehen. Aber die Emotionen waren stärker. Sehr viel stärker.
Einen Tag, nachdem ich den Brief abgeschickt hatte, ging es mir sehr schlecht und ich war vermutlich am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, sodass ich allein in meinem Zimmer rief: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Ein wenig später griff ich zu einer Bibel und stieß auf den Psalm 22. Er beginnt genau mit den Worten, die ich kurz zuvor aus der Tiefe meines Herzens herausgeschrien hatte: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Ich war völlig vor den Kopf gestoßen! Dann las ich weiter und dieser Psalm sprach mir aus der Seele, sodass ich bitterlich weinte. Dann kam Vers 22: „Du hast mich erhört.” Ab diesem Augenblick wusste ich, dass der lebendige Gott Jesus Christus mich erhört hat. Seitdem habe ich keine Trennungsschmerzen mehr, die Trauer ist vorbei. Ich bin ihm dankbar für diese Reise, durch die er mich geschickt hat und ich bin gespannt auf all das weitere, was er für mich noch in diesem Leben bereit hält.
Noch ein Wort zu Frau Müller und ihrem krankhaften Verhalten. Ich denke, dass es in ihrem kaputten Selbstwert begründet liegt. Ihre unbewusste Auffassung ist: „Niemand kann mich lieb haben, weil ich so wenig wert bin. Nicht einmal meine eigenen Kinder.” Also muss sie irgendetwas tun und leisten, um liebenswert zu sein. Sie gibt sich Mühe, die perfekte Mutter zu sein. Sie baut eine Illusion der perfekten Mutter auf, indem sie ihren Kindern verdeutlicht: „Nur wenn du auf mich hörst, wird dein Leben gelingen. Denn ich bin deine perfekte und liebenswerte Mutter.” Diese Illusion erhält sie aufrecht, indem sie ihre Kinder (und für einige Monate auch mich) durch emotionale Erpressung von „Fehlentscheidungen” abhält. So lange alle auf sie hören, werden alle glücklich. Dies macht sie letzten Endes liebenswert und wertvoll. Zumindest in ihrer Gedankenwelt. Sie ist also eine arme, gebrochene Person, die nicht weiß, dass sie allein um ihrer Existenz willen liebenswert und wertvoll ist. Dass sie von ihrer Familie und von Jesus Christus ihrem Schöpfer geliebt wird. So strampelt und ackert sie ihr Leben lang, schlägt wild um sich und zieht eine Spur der Verwüstung durch das Leben anderer Menschen. Sie ist ein Opfer ihrer eigenen Gedanken und wird damit zur Täterin gegenüber ihren Mitmenschen. Das ist sehr bemitleidenswert. Solche Menschen brauchen meiner Meinung nach ganz viel bedingungslose Liebe. So schwer es vielleicht auch sein mag, wenn man von seinen eigenen Eltern dermaßen schlecht behandelt wird, ist es glaube ich der einzige Weg diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Bedingungslose Liebe.
Prolog:
Er möchte nicht. Auf keinen Fall. Denn er mag es nicht, das Essen, das da vor ihm auf dem Teller
liegt. Doch Regel ist Regel. Erst werden die Reste vom Vortag aufgegessen, dann darf sich jeder an
der frischen Mahlzeit bedienen. Mutti hat sich diese Regel ausgedacht, damit sie als Familie kein
Essen wegwerfen. Das kann er schon verstehen, er ist ja schon groß. Und trotzdem hat er einfach
keine Lust auf Stielmus, deshalb ist er jetzt bockig. Leider weiß er aber schon aus Erfahrung, dass
das nichts bringen wird. Letzten Endes wird sich sein Gewissen melden, weil Mami immer so
traurig ist, wenn er nicht tut, was sie möchte. Also nimmt er den Löffel in die rechte Hand, hält sich
mit der linken Hand die Nase zu und schaufelt so schnell er kann den Teller leer. Es ist so ekelhaft.
Endlich hat er den letzten Löffel runtergewürgt. Geschafft. Die Kinder in Afrika sind gerettet,
morgen scheint die Sonne, und er darf endlich ein Stück vom leckeren Hackbraten essen. Es gibt
nur ein Problem: Er ist dreiundzwanzig.
Dies ist meine Geschichte. Sie handelt von meiner Ex-Freundin und ihrer Familie. Von
Engstirnigkeit und emotionaler Erpressung. Von elterlicher Kontrolle und Einmischung. Ich will
nicht sagen, dass die Beziehung zu Melina für immer gehalten hätte. Vielleicht wären wir zu einem
späteren Zeitpunkt an unseren Unterschieden gescheitert. Vielleicht auch nicht. Doch der
tatsächliche Zeitpunkt und die Art und Weise, wie es letztendlich zum Bruch kam, geht eindeutig zu
Lasten ihrer Eltern. Durch sie war Melina gezwungen, sich zwischen ihnen und mir zu entscheiden.
Ich möchte nun Stück für Stück aufzeigen, wie es dazu kam.
Ich war 26 als wir uns kennen lernten. Melina 21. Eine Actionfreizeit im warmen Spätsommer am
Starnberger See. Sechs Wochen später waren wir zusammen. Wir schienen wie für einander
geschaffen, bei all den Gemeinsamkeiten. Das sahen nicht nur wir so, die wir unter dem Einfluss
von Serotonin und Dopamin, den zwei körpereigenen Verliebtheitsdrogen standen, sondern auch
unsere Freunde und Familien. Ich verstand mich blendend mit ihren Eltern, wir verbrachten sehr
viel Zeit zu viert. Monatelang war in unserer Fernbeziehung alles in bester Ordnung. Dachte ich
zumindest. Bis zum großen Knall haben sich, von mir unbemerkt, einige Dinge abgespielt, die ich
damals unter 'niemand ist perfekt' verbuchte, heute jedoch mit anderen Augen sehe. Melinas Mutter
hatte schon sehr früh damit begonnen, mich zu ihrem Lieblings-Schwiegersöhnchen formen zu
wollen. Sie hat ja nur die eine Chance, denn Melina ist neben zwei älteren Söhnen ihr einziges
Mädchen.
Es beginnt ganz harmlos damit, dass sie mich neu einkleidete. Von einem gemeinsamen Einkauf mit
Melina brachten sie mir einige Pullover mit. Sie sagten, ich könne mir welche aussuchen, oder auch
keinen, sie bringen sie einfach wieder zurück. Für mich war es ein super Service, denn ich hasse es,
Klamotten zu kaufen. Also gab ich ihnen das Geld und behielt alle Pullover. Es waren sogar welche
dabei, die ich selber nie angezogen hätte. Aber Melina zuliebe überwand ich meine modischen
Vorstellungen. Ich gehe davon aus, dass ich mit solch einem Verhalten die Grundlage für die
späteren Kontrollversuche der Mutter legte, nach dem Motto: 'Wenn ich mein Schwiegersöhnchen
schon einkleide, kann ich es auch sonst zurechtbiegen.'
Eines Tages legte sie mir nahe, ich solle doch mal wieder zum Friseur gehen. Nach einem fünf
minütigen Vortrag über die Nachteile meiner Frisur, den sie in Anwesenheit der ganzen Familie
hielt, schaltete sie auch ihren Ehemann hinzu, der brav nickte und ihre Argumentation bekräftigte.
Routiniert, weil bereits oft getan, antwortete ich darauf mit ein paar freundlichen Sätzen und
versuchte in aller Höflichkeit zu verdeutlichen, dass ich schon immer meine eigene Linie in Bezug
auf meine Haare gefahren bin. Ihr nächster wohl gemeinter Ratschlag bestand aus einem fünfzehn
minütigen Monolog, in dem sie mir nahe legte, wie ich mein Studium am besten und schnellsten zu
Ende bringen könne. Im Leben müsse man eben manchmal auch so schöne Dinge wie Ehrenamt
beiseite legen, um sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Zielstrebigkeit war das
Stichwort. Auch hier ging ich in meiner Antwort freundlich auf die Vielfalt aller Menschen und
ihrer Lebenswege ein.
In der nächsten erwähnenswerten Episode saß ich auf der Couch im Wohnzimmer. Die Mutter betrat
den Raum mit den Worten: „Komm mal mit, ich muss dir etwas zeigen!” Man muss hierbei
hinzufügen, dass es jedes mal einem Feuerwerk gleichkommt, wenn sie einen Raum betritt. Sie
redet sehr viel. Und sehr schnell. Und sehr aufbrausend. Immer. Nach meinem ersten Treffen mit ihr
war mir sofort bewusst, dass es mich viel Kraft kosten würde, diese Frau zur Schwiegermutter zu
haben. Während sie mich nun aufforderte, ihr zu folgen, nahm sie mich bei der Hand und zog mich
hinter sich her durchs Erdgeschoss. Es fühlte sich sehr sonderbar an, so als wäre ich ein Kleinkind
oder ein Hund. Da ich in konfrontativen Momenten jedoch eher schüchtern bin und vieles vorerst
über mich ergehen lasse, ließ ich auch dies mit mir machen. Sie schleppte mich ins Badezimmer bis
vor die geöffnete Toilettenschüssel. Dann wies sie mich darauf hin, dass im Hause Müller der
Toilettendeckel immer herunter geklappt wird und ich dies in Zukunft doch bitte beachten solle.
Inhaltlich stellte ihre Bitte kein Problem für mich dar, also versprach ich ihr, mich darum zu
bemühen. Doch es blieb ein fahler Beigeschmack. Konnte sie mir dies nicht einfach nur sagen, wie
man es unter Erwachsenen nun einmal macht? Wozu die entwürdigende Gassi-Aktion?
Es kommt jedoch noch besser. Meine erste Begegnung mit der im Prolog beschriebenen Essens-
Regel verlief folgendermaßen: Zu einem Mittagessen gab es Burger, jedoch waren noch Reste von
Stielmus, einem spinatähnlichen Gericht, übrig. Die Mutter erklärte mir die Regel und dass sie sie
befolgen, seit die Kinder klein waren. Sie fing also damit an, jedem zwei Löffel davon auf den
Teller zu schöpfen, denn hierbei gelte gleiches Recht für alle. Geteiltes Leid sei halbes Leid. Beim
Thema Essen von Leid zu sprechen, finde ich ja schon grenzwertig. Wurde denn der Mensch für das
Essen geschaffen? Oder das Essen für den Menschen? Nun war also mein Teller an der Reihe und
nachdem sie den ersten Löffel abgeladen hatte, bat ich sie freundlich darum, es vorerst dabei zu
belassen, denn ich wolle das für mich neue Gericht erst einmal probieren. Sie entgegnete, dass es in
ihrem Hause noch nie Extrawürste gegeben habe und klatschte die zweite Ladung umso energischer
auf meinen Teller. Im Grunde bin ich ein Harmonie bedürftiger Mensch und darum bemüht, das
Gute in allen Menschen zu sehen. Doch in diesem Moment hätte ich sie am liebsten totgeschlagen.
Oder in ihrem Stielmus ertränkt. Leider war ich wie so oft zu feige, meinen Ärger auszusprechen.
Aber natürlich haben es trotzdem alle mitbekommen. Die Stimmung war plötzlich sehr vereist.
Wutentbrannt aß ich den Teller leer. Die einzige Kritik, zu der ich mich in meiner
Harmoniebdürftigkeit aufraffen konnte, war der sehr zynisch gesprochene Satz: 'Na dann haben wir
ja Glück gehabt, dass mir das Essen schmeckt.' In den folgenden Wochen machte ich mir sehr viele
Gedanken darüber und kam zu dem Schluss, dass die Mutter ihre erwachsenen Kinder und
Schwiegerkinder nicht so behandeln kann. Denn es handelt sich um Zwang. Der mag bei
Kleinkindern nötig sein, nicht jedoch bei erwachsenen Menschen. Ich entschied mich dazu, dieses
Spiel nicht mehr mitzuspielen. Auch ich ärgere mich über das leichtfertige Wegwerfen von
kostbaren Lebensmitteln. Und deshalb bin ich ebenfalls dafür, Reste zu verwerten. Noch dazu esse
ich sehr viel und sehr gerne und die Mutter ist eine sehr gute Köchin. Deshalb schlug ich ihr vor, ob
sie die Reste in Zukunft nicht einfach zum Hauptgericht dazustellen und sie anbieten möchte. Ich
garantierte ihr, dass ich sie liebend gern essen würde. Doch dies war für sie keine Option. Wo käme
man denn da hin, wenn jeder tut und lässt, was er will? In der Folgezeit diskutierten wir sehr viel
über Zwang und Freiheit in Beziehungen zwischen eigenständigen Subjekten. Doch weder ich
konnte ihre, noch sie meine Logik nachvollziehen. Also entwickelte ich einen sehr unschönen, aber
bestmöglichen Kompromiss. Wenn es noch einmal zu einer Reste-Situation käme, sagte ich ihr,
würde ich mich nicht dazu zwingen lassen, diese zu essen. Wir sind alle freie Menschen. Um dann
aber fair zu sein und mir nicht die Rosinen heraus zu picken, würde ich auch auf die Hauptmahlzeit
verzichten. Sie empfand meine Reaktion als sehr beleidigend und sagte mir wutentbrannt, dass sie
damit emotional nicht klar käme. Aufgrund ihrer Hochsensibilität, die sie sehr gerne als
Entschuldigung für vieles heranzieht, könne sie so nicht mit mir an einem gemeinsamen Tisch
sitzen. Gar nicht mehr. Denn Essen sei Gemeinschaft und mit diesem Verhalten würde ich die
Gemeinschaft zerstören. Noch dazu sie als Köchin beleidigen. Deshalb habe sie sich dazu
entschlossen mich und Melina unter diesen Umständen nie wieder zum Essen einladen zu können.
Als erste Reaktion sagte ich nur, dass das für mich in Ordnung sei und das akzeptieren würde. Mit
meinem jetzigen Wissensstand denke ich, dass es sich bei ihrer Drohung um emotionale Erpressung
handelte. Sie fühlte sich der Situation gegenüber machtlos und merkte, dass sie mich nicht formen
kann, wie sie möchte. Also bestrafte sie mich, und noch viel mehr ihre Tochter, mit
Gemeinschaftsentzug, in der Hoffnung, ich würde meine Meinung ändern und in Zukunft brav
Reste essen. Dies war für mich jedoch keine Option. Das hatte nichts mehr mit freier
Menschenwürde zu tun. Für Melina war dieser Zustand selbstverständlich undenkbar. Wie sollte sie
jemals einen Mann heiraten, mit dem sie niemals zusammen mit ihren Eltern gemeinschaftlich
essen konnte? Sie wusste, ihre Mutter würde das durchziehen. Denn diese Frau lebt mit sehr vielen
Menschen in Streit und absolutem Kontaktabbruch. Dass Familien zerbrechen, ist für Melina also
bittere Realität. Völlig verständlicher weise bearbeitete sie mich also die nächsten Wochen und
flehte mich an, mein Vorhaben zu ändern. Es tat mir im Herzen weh, das zu sehen und ich
hinterfragte mich sehr kritisch. Ob ich nicht zu stolz sei. Oder die Eltern nicht respektiere. Aber ich
konnte mir einfach nicht vorstellen, mich solch einer freiheitsverachtenden Regel zu beugen. Als
die Situation sich immer mehr zuspitzte, gab ich letztendlich doch um 'des lieben Friedens willen'
nach. Ich wollte nicht schuld an diesem Zerwürfnis sein. Also ordnete ich mich aus Nächstenliebe
unter und versprach Melina, meine Meinung zu ändern. Beim nächsten Krisengespräch mit ihren
Eltern ging die Mutter dann darauf ein und sagte in fast schon bockigem Ton: 'Nein, das kann ich
jetzt auch nicht mehr. Denn jedes Mal, wenn du Reste essen würdest, wüsste ich, dass du das nicht
freiwillig machst und innerlich protestierst. Wegen meiner Hochsensibilität komme ich damit nicht
klar.' Das Ergebnis war also, egal was ich getan hätte, ich könnte nie wieder mit meinen
Schwiegereltern an einem Tisch essen. Meiner Vermutung nach wollte die Mutter mich zu dem
Zeitpunkt bereits absägen. An zu vielen Stellen hatte ich Rückgrat bewiesen und mich nicht von ihr
verbiegen lassen. Sie braucht jedoch einen Schwiegersohn, den sie nach Belieben formen kann.
Also war ihr Essens-Streik eine Botschaft an ihre Tochter: 'Mit diesem Typen an deiner Seite wirst
du mit mir keinen Frieden mehr haben.'
Die Situation im Prolog beschreibt übrigens das Verhalten ihres erwachsenen Sohnes. Sie schlug
mir vor, es doch so wie er zu machen und mir einfach die Nase zuzuhalten, wenn ich die Reste nicht
mag. Seit diesem Moment hatte ich keine Achtung mehr vor ihm als Mann.
Überhaupt hat sie mich sehr gerne und viel mit ihren Söhnen verglichen. In so vielen Fällen könne
ich mir doch ein prima Beispiel an diesen Vorzeigesöhnen nehmen. Ich sollte also so werden wie
sie, die ihr Leben lang von Mutti geformt und konditioniert wurden.
Dass sie mich gerne zurechtstutzen wollte, wurde auch noch einmal sehr deutlich, als sie mir
vorwarf, ich würde all ihre Anmerkungen so ignorant vom Tisch wischen und gar nicht darauf
eingehen (siehe Haare, Studium). Es stellte sich heraus, dass die einzig adäquate Reaktion gewesen
wäre, zum Friseur zu gehen und zielstrebiger zu studieren. Sogar meine Socken hätte ich auf rechts
drehen müssen. Während des ersten Krisengesprächs bemerkte sie, dass meine Socken, die sie mir
gestrickt hatte, auf links gedreht waren. Ich bedankte mich für den Hinweis und widmete mich
wieder dem sehr mühsamen und wichtigen Gespräch. Später hielt sie mir vor, warum ich denn nicht
gleich aufgesprungen sei, um die Socken umzudrehen. Sie hätte das auf jeden Fall so gemacht.
Noch lange bevor mir klar wurde, was in dieser Familie abläuft, hatte mein Unterbewusstsein schon
Lunte gerochen. Ich erinnere mich an eine Situation, in der mich ein sonderbares Gefühl überkam,
als ich im Wohnzimmer der Eltern stand. Ich kannte dieses Gefühl von früher. In meiner Kindheit
besuchte ich häufig einen Cousin, der etwas weiter weg wohnte, meistens für mehrere Tage. Da
meine Eltern nicht dabei waren, wurden meine Tante und mein Onkel für die Zeit zu meinen
Erziehungsberechtigten. Sie versorgten mich und sorgten dafür, dass ich ein braves Kind blieb. So
soll es ja auch sein. Nur war ich doch sehr verwundert, als mich mit Mitte zwanzig auf einmal
wieder dieses Gefühl überkam. Diesmal aber im Hause meiner zukünftigen Schwiegereltern. Es
fühlte sich nicht richtig an und doch war es da. Ich machte mir jedoch keine weiteren Gedanken
darüber. Aber mein Unterbewusstsein hatte bereits begriffen, wo ich gelandet war.
Denn schon ganz zu Beginn der Beziehung offenbarte die Mutter ihr vereinnahmendes Wesen.
Melina besuchte mich zu meinem Geburtstag und hatte sich für mich ein schönes Geschenk
überlegt. Kurz bevor sie zu Hause aufbrach, überreichte ihre Mutter ihr ebenfalls ein Geschenk an
mich. In Melinas Augen war es noch besser und schöner als ihr eigenes und sie fühlte sich dadurch
übertrumpft und sehr verletzt. Es kam zu einer Auseinandersetzung, mit dem Ergebnis, dass sie es
trotzdem mitnahm, sie aber im Unfrieden auseinander gingen. Während der einstündigen Autofahrt
versuchte die Mutter unentwegt, Melina zu erreichen und schrieb ihr viele Nachrichten. Der Inhalt
ist mir leider nicht mehr bekannt, doch das Verhalten der Mutter führte dazu, dass Melina mir dieses
Geschenk schweren Herzens auch überreichte. Sie erzählte mir von ihren Sorgen und ich gab mir
große Mühe, ihr eigenes Geschenk viel mehr wertzuschätzen, weiß aber nicht, ob mir das gelang.
Nicht lange danach standen Weihnachten und Silvester vor der Tür. Familie Müller erwartete
Besuch aus Peru. Die vier Frauen sprechen nur Spanisch und Englisch und sollten für zwei Wochen
bleiben. Nun machte sich die Mutter große Sorgen, dass sie und ihr Mann alleine nicht mit dem
Besuch klar kämen, weil sie ja nicht so gutes Englisch könnten. Also wurden Melina und ihr Bruder
dazu angehalten, den Großteil dieser zwei Wochen zu Hause zu verbringen. Ich weiß nicht, wie
genau die Gespräche abliefen, aber Melina hatte keine andere Wahl. Sie war an ihr Zuhause
gebunden. Vermutlich hat die Mutter ihnen vorgeführt, wie furchtbar sie darunter leiden würde,
alleine mit diesen Menschen klarkommen zu müssen. Das ist ja das Prinzip der emotionalen
Erpressung: Der Täter erzeugt im Opfer schlechte Gefühle: Schuldgefühle, Angstgefühle, oder
falsche Pflichtgefühle.
Mein ursprünglicher Plan für Silvester bestand darin, mit meinen Schulfreunden zu feiern und
Melina mitzunehmen. Dies war nun unmöglich. Sie konnte nicht von Zuhause weg. Nun überlegte
ich also, ob wir dann getrennt feiern würden, denn die Feier mit den Schulfreunden war schon
länger vorgesehen. Melina war damit nicht einverstanden und setzte mich wiederum unter
emotionalen Druck. Sie sagte mir, dass sie sich grad nicht sicher sei, ob sie mich noch lieben würde.
Dies löste in mir natürlich Angst vor einer Trennung aus. Kurze Zeit später gab ich also nach und
feierte im lieben Kreise meiner Schwiegerfamilie. Zwischen Melina und mir war dann wieder alles
in bester Ordnung. Heute weiß ich durch diese und andere Situationen, dass Melina die emotionale
Erpressung nicht nur übersieht und akzeptiert, sondern auch selber anwendet. Es ist für sei ein
legitimes Mittel. Zum Beispiel verlangte sie von mir, dass ich erst meine BaföG-Schulden tilge,
bevor wir heiraten. Sie sagte ganz klar: 'Mit 3.000 Euro Schulden heirate ich dich nicht.' Diese
Forderung hat sich für mich immer sehr falsch angefühlt, doch das konnte sie nicht nachvollziehen.
Hätte sie mich darum gebeten, dies ihr zu liebe zu tun, hätte ich mich darum bemüht. Aber sie
wollte aus ihrer Forderung keine Bitte machen. Heute, wo ich diesen Sachverhalt viel objektiver
betrachten kann, erscheint mir diese Forderung noch viel schrecklicher als damals.
Während der zwei Wochen mit dem Besuch aus Peru besuchte ich Melina für einige Tage, da sie ja
nicht zu mir kommen konnte. In dieser Zeit 'überraschte' uns ihre Mutter mit einer tollen Nachricht:
Die Peruaner würden spontan Freunde in der Schweiz besuchen und somit könnten Melina und ich
gerne auch wegfahren und tun, was wir möchten. Ihre Majestät stellte ihre Untergebenen in ihrer
unermesslichen Güte für einige Tage frei. Ich wundere mich, wie blind ich damals gewesen bin.
Genau genommen genau so blind, wie Melina und ihre Brüder es noch heute sind. Sie sind mit dem
Verhalten ihrer Mutter aufgewachsen, haben es aufgesogen und verinnerlicht. Es ist für sie normal.
Als ich Melina nach der Trennung einen Brief schrieb, indem ich meine neu gewonnenen
Einsichten über ihre Mutter möglichst schonend formulierte, zerriss Melina den Brief. Das sagte sie
mir später am Telefon. Trotz der großen Beleidigung, die sie durch diesen Brief empfunden hatte
(wie könne ich so etwas Böses über ihre Mutter sagen), war sie froh darüber. Denn nun habe sie
einen rationalen Grund, nie wieder zu mir zurückzukommen, falls sie ein emotionales Verlangen
danach spüren sollte.
Als Melina und ich irgendwann vom Heiraten redeten, bekamen ihre Eltern Wind davon. Also
ergriffen sie einige Maßnahmen, damit alles nach ihrer Vorstellung läuft. Sie schenkten uns einen
Ehe-Ratgeber, von dem sie selber sehr begeistert waren. Ich empfand es als eine sehr nette Geste
und das Buch war auch wirklich gut. Doch als ich eines Tages mit Melina über ein anderes Buch
sprach, sagte ich zu ihr, dass man jedes Buch kritisch lesen muss, da jeder Autor auch nur ein
fehlbarer Mensch ist. Ihre Mutter bekam dies mit, ohne aber zu wissen, um welches Buch es geht.
Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, erntete ich für den Bruchteil einer Sekunde einen sehr
bösen Todesblick von ihr. Ich gehe davon aus, dass sie dachte, es gehe um ihren heißgeliebten Ehe-
Ratgeber.
Als nächstes wollten sie ihrer Tochter klarmachen, dass sie als Ehefrau höchstens eine 50%-Stelle
annehmen kann. Deshalb redeten sie auf sie ein und als sie keine großartige Reaktion und vor allem
keine Einsicht erzeugen konnten, gingen sie praktischere Wege. Melina wurde dazu verdonnert, von
nun an alleine in der Anliegerwohnung des Hauses zu wohnen. Damit sie dort dann lernt, dass
Haushalt und eine 100%-Stelle nicht zusammen passen. Melina war tief verletzt, weil sie kein
Mensch ist, der alleine leben kann. Sie war dann tatsächlich auch sehr gefordert mit Arbeit,
Haushalt und Fernstudium. Irgendwann hatte sie den 50%-Gedanken dadurch auch verinnerlicht
und sich somit erziehen lassen. Als erwachsene Frau. Dass ihre Lebenssituation in einer Ehe
insofern anders wäre, dass sie nicht alleine den Haushalt schmeißen müsste und auch das
Fernstudium dann schon vorbei wäre, interessierte niemanden.
Es ging noch weiter. Für die Eltern war es absolut undenkbar, dass wir heiraten, solange ich noch
Student bin. Darüber kann man ja durchaus verschiedener Meinung sein, jedoch konnten sie es
nicht bei Ratschlägen belassen und griffen auch hier vehement ein. Melina wurde zu der
Hausaufgabe verdonnert, zu überlegen, was das Leben im Detail kostet und diese Liste wurde dann
von ihren Eltern überarbeitet. Damit wollten sie uns klar machen, dass wir erst heiraten könnten,
wenn ich ein volles Gehalt beziehen würde. Die Diskussionen zogen sich wochenlang hin und die
Situation spitzte sich immer weiter zu. Sie wollten von uns hören, ob wir nun wirklich heiraten
wollten, oder nicht. Ich habe mich komplett dagegen gewehrt, solch kontrollierende Eltern in meine
Pläne einzuweihen. Am Ende stellten uns die Eltern vor folgende Entscheidung: 'Ihr geht euern Weg
mit uns, oder ohne uns. Das dürft ihr entscheiden.' Jedoch hätte 'ohne sie' einige Konsequenzen:
-Gemeinschaft ist an Gehorsam gekoppelt. Unser Ungehorsam hätte einen Bruch in der
Gemeinschaft bedeutet
-Melina hätte mit sofortiger Wirkung Miete an ihre Eltern zahlen müssen. Und Melina war sich
durchaus bewusst, dass es nicht nur um die Miete ging. Ihr Status hätte sich von 'Tochter' zu
'Mieterin' geändert.
-Melina würde ihren Eltern 10.000 Euro schulden. Das muss man erklären. Die Eltern haben
Melinas schulische Berufsausbildung finanziert. Sie haben sich dafür die Butter und den Urlaub
vom Brot gespart. Es gab niemals die Vereinbarung, dass Melina die Ausbildungskosten wieder
zurückzahlen müsste. In den zwei Jahren nach Ausbildungsende hatte sie knapp 30.000 Euro
gespart. Die Eltern sagten nun, dieses Geld gebe es nur, weil sie in die Ausbildung investiert hätten.
Und sie waren der Ansicht, wenn wir zu früh heiraten würden (während ich noch studiere), würden
wir garantiert von diesem Ersparten leben. Alles andere konnten sie sich nicht vorstellen. Sie
argumentierten also, dass der falsche Lebensweg, den wir einschlagen wollten, nur möglich war,
weil wir von ihrer Investition profitierten. Also wollten sie für den Fall, dass wir es tatsächlich tun,
ihre 10.000 Euro zurück haben.
Wir hatten also die Wahl: Unseren Weg gehen und somit die Beziehung zu den Eltern zerstören und
Schulden bei ihnen haben, oder brav sein und alles beim Alten belassen. Noch dazu wollten sie eine
schnelle Antwort, setzten uns unter Zeitdruck.
Ich wäre eher gestorben, als diesen Menschen gegenüber Rechenschaft darüber abzulegen, wie ich
mein Leben gestalte und dann auch noch gehorsam zu sein. An dieser Stelle nachzugeben, wäre das
falscheste, was ich je in meinem Leben getan hätte. So hatte es sich angefühlt. Und heute weiß ich,
dass es das tatsächlich gewesen wäre.
Ich ging sogar soweit, dass ich es für das Beste hielt, den Eltern die 10.000 Euro auf jeden Fall zu
geben. Wenn sie das Geld einmal als Druckmittel verwenden, würden sie es wieder tun, war meine
Vermutung. Wenn Melina und ich zum Beispiel oft in den Urlaub gefahren wären, hätte die Mutter
vielleicht eines Tages gesagt: 'Moment mal, wir haben damals für Melinas Ausbildung auf Urlaub
verzichtet und ihr lebt jetzt in Saus und Braus? Dann wollen wir unsere 10.000 Euro zurück.' Diese
oder ähnliche Forderungen hielt ich mittlerweile für höchst wahrscheinlich. Deshalb wollte ich
dieses Druckmittel auslöschen. Das hätte jedoch nicht viel gebracht, es war ja nur eines von vielen.
Melina sollte sich also mal eben zwischen dem Mann, den sie heiraten wollte und ihren Eltern
entscheiden. Völlig verständlich, dass die daran zerbrochen ist. Sie hat nur noch ihre Eltern und ihre
Brüder als Familie. Zum Rest der gesamten Verwandtschaft besteht aus verschiedensten Gründen
kein Kontakt. Meist ist die Mutter ein zentrales Element dieser Zerwürfnisse. Auch ihre direkten
Nachbarn reden nicht mehr mit ihr. Diese Frau zieht eine Spur der Verwüstung durch ihr Leben und
wundert sich, warum sie immer an so komische Menschen gerät. So viel Pech muss man erstmal
haben.
Die Entscheidung für oder gegen die Eltern kam mir sehr sonderbar vor. Ich setzte mich gedanklich
damit auseinander, schrieb alles geordnet auf und kam zu dem Schluss, dass sie uns auf emotionale
Weise erpressen. Emotionale Erpressung war mir noch völlig unbekannt, aber hier war es so
eindeutig, dass man es nicht übersehen konnte. Nachdem Melina meine Notizen gelesen hatte, sagte
sie: 'Oh mann, das ist echt scheiße … denn du hast Recht!' Ich wurde also Zeuge eines höchst
seltenen, lichtdurchfluteten Moments, in dem ihr die Augen dafür geöffnet wurden, was sie schon
ihr ganzes Leben erleiden muss. Nicht lange danach war von dieser Einsicht jedoch nichts mehr
vorhanden; die Erkenntnis wurde um des lieben Friedens willen hinunter geschluckt. Wer will
schon wahrhaben, dass die eigenen Eltern Tyrannen sind?
Eines Tages gab es einen sehr heftigen Streit zwischen den Dreien, ich war nicht dabei. Melina hat
ihre Eltern wohl heftig angeschrien. Ich kann auch sehr gut nachvollziehen, warum. Sie sagte ihnen
in dieser Zeit mehrfach, dass sie das Gefühl hat, nichts mehr richtig machen zu können. Alles war
falsch. Genauso ging es ja auch mir. Jedenfalls war die Mutter vom Verhalten ihrer Tochter sehr
gekränkt und bestrafte sie mit einem zweitägigen Schweigen. Sie hat sie völlig ignoriert, so als wäre
sie nicht da. Keinen Annäherungsversuch durch Melina hat sie akzeptiert. Diese Art der
emotionalen Erpressung funktionierte sehr gut, denn Melina würde alles tun, um ihre Mutter nicht
zu verlieren. Also schrieb sie einen Brief, indem sie alle Schuld auf sich nahm und versprach,
wieder ein braves Töchterchen sein zu wollen. Damit war das Herrschafts-/Knechtschaftsverhältnis
wieder klargestellt und die Mutter belohnte sie mit ihrer Zuwendung.
Als wir eines Tages zu viert darüber diskutierten, wie wir in Zukunft miteinander auskommen
könnten, platzte Melina der Kragen. Sie sagte: 'Mit euch rede ich nicht mehr!' und verschwand nach
oben. Daraufhin sagte die Mutter zu mir: 'Siehst du was mit ihr passiert? So kenne ich sie gar nicht!
Sieh mal zu, dass DU dass wieder hinbekommst.' Scheinbar war ich also schuld an dem ganzen
Schlamassel.
Für mich war diese Zeit der blanke Horror. Ich habe mir das Gehirn verrenkt, um eine Lösung,
einen Kompromiss für all das zu finden. Mir war leider noch nicht bewusst, dass es mit solchen
Menschen keine Lösung gibt. Ich fühlte mich, als würde eine Schlinge um meinen Hals liegen und
sich immer weiter zuziehen. Wenn ich Melina besuchte, klingelte ich nur bei ihr und ging nicht
mehr zu ihren Eltern. Ich wollte nicht mehr mit ihnen sprechen, höchstens über das Wetter. Denn
ich hatte das Gefühl, dass sie mir aus jedem meiner Worte und aus jeder Information wieder
irgendeinen Strick drehen können. Irgendwann äußerte ihr Vater den Wunsch, dass ich doch bitte
erst noch bei ihnen reinschauen soll, es sei schließlich deren Haus. Melina deutete diese Bitte so,
dass er mich gerne sehen will, weil er mich mag. Für mich wirkte diese Aufforderung wie ein
Befehl zum Fahnenappell. Dem bin ich natürlich nicht nachgekommen. Ich habe nicht mal mehr
mein Auto auf deren Grundstück abgestellt, weil ich so unabhängig wie möglich von ihnen sein
wollte. Ich habe leider erlebt, dass materielle Vorteile auch immer an Gehorsam gekoppelt sind. Das
haben sie mir auch explizit so gesagt, nachdem ich sie darauf angesprochen hatte.
Die Eltern sind sehr freigiebig. Sie haben mich von Anfang an sehr warmherzig aufgenommen und
versorgt. Ich durfte bei ihnen jedes Wochenende wohnen. Die Mutter gestattete mir ausdrücklich,
mich jeder Zeit am Kühlschrank zu bedienen und überhaupt das ganze Haus zu durchstöbern. 'Wenn
du was suchst, einfach in die Schränke gucken. Wir haben keine Geheimnisse!' Man wird
vollständig von ihnen vereinnahmt. Eine herrliche Symbiose, die jedoch nicht nur die materiellen
Vorteile, sondern auch absolute Anpassung und Gehorsam bedeutet.
In dieser Zeit hatte ich einen heftigen Albtraum. Ich befand mich in Familie Müllers Garten, als
plötzlich ein Tiger aus deren Gartenhaus ausbrach. Es war eine blutrünstige Bestie. Ich rannte um
mein Leben und konnte mich noch gerade ins Wohnhaus retten. Diesen Traum erzählte ich auch
Melina, ohne ihn zu kommentieren. Nach einer kurzen Pause sagte Melina dann ganz besorgt: 'Der
Tiger ist nicht meine Mutter.' Sie hatte also ganz genau gespürt, was mir durch den Kopf ging. Sie
wollte die Realität aber nicht akzeptieren.
Als Melina dann die Beziehung beendete, war ich zweigeteilt: Einerseits zerriss es mir das Herz in
tausend Stücke, andererseits war ich sehr erleichtert, diese schrecklichen Eltern nun los zu sein. Ich
vergleiche die Situation gerne mit einer Beinamputation: Ich hatte eine Blutvergiftung im Bein,
deswegen musste es amputiert werden. Der Verlust des Beins ist schrecklich, man kann sich kaum
Schlimmeres vorstellen. Wenn das Bein jedoch bliebe, wäre irgendwann der ganze Körper vom Gift
durchzogen. Ich würde sterben. Deshalb ist es gut so, wie es ist.
Die Eltern sagten mir einmal, dass sie jemanden wie mich noch nie erlebt hätten. Auch sie wussten
irgendwann nicht mehr, worüber sie mit mir reden sollten. Denn ich würde überall nur Zwänge
sehen, man könne mit mir überhaupt nicht mehr normal reden. Die Frage ist, wie sie mich erlebt
haben: Ich habe aufbegehrt, mich nicht manipulieren lassen. Sie sind es gewohnt, dass jegliche
Eigenständigkeit von ihnen im Keim erstickt werden kann. Das hat bei mir nicht funktioniert,
sodass ihre Angriffe immer heftiger und mein Widerstand immer größer wurde.
Obwohl mir bewusst war, dass die Eltern im Unrecht sind, hatte ich eines Tages einen
Zusammenbruch. Mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, diese extrem verworrene Situation zu
begreifen. Ich wusste nicht mehr wo oben und unten, oder was Recht und Unrecht ist. Auf einmal
erschien es sehr logisch, dass ich selbst das Problem bin. Die Erkenntnis brach wie ein Gewitter
über mich herein. Es kam während eines Gesprächs mit Melina. Mir fielen verschiedene
Verhaltensweisen aus meiner Kindheit aber auch aus der Gegenwart ein, die nicht richtig sind. An
denen ich zu arbeiten habe. Ein Gedanke fügte sich zum andern und plötzlich war mir völlig klar,
dass ich krank bin. Dass man mit mir keine Beziehung, geschweige denn Ehe führen kann. Dass ich
immer Probleme machen werde. Ich weinte viel und heftig. Melina reagierte sehr verständnisvoll,
war von dem Moment an jedoch vollständig von meiner Krankheit überzeugt. Sie verlangte, dass
ich zu einem Psychotherapeuten ginge, was ich auch tatsächlich gemacht habe. Die Therapeutin
bescheinigte mir jedoch, dass ich kerngesund sei.
Ich habe die Vermutung, dass die Mutter nur weitergibt, was sie selber von ihrer Mutter bekommen
hat. Seit einigen Jahren herrscht zwischen ihnen Funkstille, nachdem sie im gleichen Haus gelebt,
sich aber zerstritten haben. Interessant ist, dass Melinas Mutter in den letzten Jahren eine
interessante Entwicklung durchmacht, auf die sie sehr stolz ist. Sie entdeckt, dass sie ein
eigenständiges Individuum ist. An ihren Wänden hängen Postkartensprüche wie diese: „Stirb nicht
als Kopie, andere gibt es schon genug” oder „Was hindert dich eigentlich daran, du selbst zu sein?”.
Sie wird nicht müde, davon zu erzählen, wie froh sie über diese Einsichten ist. Ich vermute nun,
dass die Gleichzeitigkeit des Kontaktabbruchs zu ihrer eigenen Mutter und dieser persönlichen
Entwicklung kein Zufall ist.
Von Melina weiß ich, dass sie und ihre Brüder sich vor Geschenken der Großmutter sehr in Acht
nehmen. Sie haben erlebt, dass die Großmutter gerne an ihre großzügigen Geschenke erinnert, um
von ihren Enkeln einen Gefallen zu erpressen. Als sie den Dreien eines Tages großzügige
Geldgeschenke machen wollte, haben sie diese sogar abgelehnt, um sich nicht erpressbar zu
machen.
Dieses Verhalten scheint mir als Familienerbe von Generation zu Generation weitergegeben zu
werden. Wie bereits gesagt, habe ich auch bei Melina erste Anzeichen emotionaler Erpressung
wahrgenommen. Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, worunter sie leiden und diesen
Teufelskreis zu durchbrechen.
Gott sei Dank habe ich intuitiv vieles richtig gemacht. Ich habe Rückgrat bewiesen und mich nicht
verbiegen lassen. In dieser Zeit war mir noch überhaupt nicht bewusst, was geschieht. Erst seit der
Trennung verstehe ich durch viel Lesen und Nachdenken die Zusammenhänge. Ich durchstreifte
eines Tages das Internet nach Artikeln zum Thema Mutter-Tochter Beziehung und stieß dann auf die
Themen 'Narzisstische Persönlichkeitsstörung bei Müttern' und 'Emotionale Erpressung'. Ich traute
meinen Augen kaum. Es war, als hätten die Autoren das Verhalten von Melinas Mutter
dokumentiert. Sogar einzelne Zitate konnte ich wortgetreu wiederfinden, wie etwa: 'Es ist doch nur
zu euerm Besten!' Auf einmal ergab alles einen Sinn. Endlich konnte ich meine schrecklichen
Erlebnisse einordnen, endlich hatte ich ein Vokabular, um darüber zu reden. Mir fiel ein riesiger
Stein vom Herzen, es war ein erlösendes Gefühl. Mit dieser Erkenntnis startete ein langer
Verstehensprozess, der bis heute andauert. Wissbegierig saugte ich alles auf, was mir das Internet
und auch Bücher zu diesen Themen sagen konnten.
Natürlich gab es einen Weg, um die Beziehung aufrecht zu erhalten: Mich ganz dieser Familie
hingeben und den Schwiegersohn mimen, den sie sich wünschen. Meine Integrität hätte sich rasant
verabschiedet. Ich wäre bald ein gebrochener Pantoffelheld, der nur noch emotional versteckte
Befehle befolgt. Wie gut, dass ich lange genug durchhalten konnte und dieses widerwärtige
Geflecht, dass die Mutter wie eine schwarze Witwe um mich gesponnen hatte, zerrissen ist. Ich bin
wieder ein freier Mann, lebendig, stärker als zuvor, erfahrener, weiser. Ich konnte bereits sehr von
meinem neuen Wissen im Umgang mit emotionaler Erpressung profitieren. Auch anderen
Menschen konnte ich ein wenig die Augen öffnen, indem ich ihnen meine Geschichte erzählte und
sie sich selbst darin wieder fanden.
Melina hingegen ist, glaube ich, noch tiefer in dieses Netz verstrickt als je zuvor. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass sie seit der Trennung wieder viel Zuwendung und Liebe von ihren Eltern
erhält. Sie ist sich sicher, dass ich einfach wieder mal der falsche Typ war und sie der rosaroten
Brille zum Opfer gefallen ist (Etwas ähnliches sagte sie kurz vor Schluss). Ich wünsche ihr viel
Erfolg bei der Suche nach einem Mann, der alles mit sich machen lässt. Der keine eigenen
Standpunkte vertritt. Sie wird ihn heiraten, für einen Moment überglücklich sein und sich dann zu
Tode langweilen.
Aber das ist nun nicht mehr mein Problem.
…
Mittlerweile ist seit der Trennung ein Jahr vergangen. Ich habe viel gelernt. Über diese Familie, aber auch meine eigene Familie und mich selbst. Sehr hilfreich war die Literatur von Susan Forward, einer Psychotherapeutin (Titel: Emotionale Erpressung, Vergiftete Kindheit, Nächsten Sonntag bringe ich sie um). Mir ist klarer als je zuvor, dass Melina exakt die selben Methoden anwendet und anwenden wird, wie es ihre Mutter tut. Trotz dieser Erkenntnis war ich emotional sehr abhängig von ihr und habe deshalb ein halbes Jahr nach der Trennung noch einmal versucht, sie per Brief um einen Neuanfang zu bitten. Rational war mir bewusst, dass es einem Selbstmord gliche, diese Beziehung noch einmal einzugehen. Aber die Emotionen waren stärker. Sehr viel stärker.
Einen Tag, nachdem ich den Brief abgeschickt hatte, ging es mir sehr schlecht und ich war vermutlich am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, sodass ich allein in meinem Zimmer rief: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Ein wenig später griff ich zu einer Bibel und stieß auf den Psalm 22. Er beginnt genau mit den Worten, die ich kurz zuvor aus der Tiefe meines Herzens herausgeschrien hatte: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Ich war völlig vor den Kopf gestoßen! Dann las ich weiter und dieser Psalm sprach mir aus der Seele, sodass ich bitterlich weinte. Dann kam Vers 22: „Du hast mich erhört.” Ab diesem Augenblick wusste ich, dass der lebendige Gott Jesus Christus mich erhört hat. Seitdem habe ich keine Trennungsschmerzen mehr, die Trauer ist vorbei. Ich bin ihm dankbar für diese Reise, durch die er mich geschickt hat und ich bin gespannt auf all das weitere, was er für mich noch in diesem Leben bereit hält.
Noch ein Wort zu Frau Müller und ihrem krankhaften Verhalten. Ich denke, dass es in ihrem kaputten Selbstwert begründet liegt. Ihre unbewusste Auffassung ist: „Niemand kann mich lieb haben, weil ich so wenig wert bin. Nicht einmal meine eigenen Kinder.” Also muss sie irgendetwas tun und leisten, um liebenswert zu sein. Sie gibt sich Mühe, die perfekte Mutter zu sein. Sie baut eine Illusion der perfekten Mutter auf, indem sie ihren Kindern verdeutlicht: „Nur wenn du auf mich hörst, wird dein Leben gelingen. Denn ich bin deine perfekte und liebenswerte Mutter.” Diese Illusion erhält sie aufrecht, indem sie ihre Kinder (und für einige Monate auch mich) durch emotionale Erpressung von „Fehlentscheidungen” abhält. So lange alle auf sie hören, werden alle glücklich. Dies macht sie letzten Endes liebenswert und wertvoll. Zumindest in ihrer Gedankenwelt. Sie ist also eine arme, gebrochene Person, die nicht weiß, dass sie allein um ihrer Existenz willen liebenswert und wertvoll ist. Dass sie von ihrer Familie und von Jesus Christus ihrem Schöpfer geliebt wird. So strampelt und ackert sie ihr Leben lang, schlägt wild um sich und zieht eine Spur der Verwüstung durch das Leben anderer Menschen. Sie ist ein Opfer ihrer eigenen Gedanken und wird damit zur Täterin gegenüber ihren Mitmenschen. Das ist sehr bemitleidenswert. Solche Menschen brauchen meiner Meinung nach ganz viel bedingungslose Liebe. So schwer es vielleicht auch sein mag, wenn man von seinen eigenen Eltern dermaßen schlecht behandelt wird, ist es glaube ich der einzige Weg diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Bedingungslose Liebe.