Liebe Attackengeplagte,
per Zufall bin ich auf die Diskussion hier gestossen und besonders Deine Beträge, Zitronenfalterin, haben mir aus der Seele gesprochen. Endlich mal jemand, der genau das formuliert, wie ich es auch sehe und empfinde! Die "Sicht von außen" ließ ja nicht lange auf sich warten, und ich denke auch, auf diese Beiträge kann hier verzichtet werden, denn mit dieser Sicht haben wir Betroffenen –meist weniger deutlich ausgesprochen, aber von vielen so gedacht- schon genug im Alltagsleben zu tun. So nach dem Motto: "Die muss sich nur mal zusammenreissen."
Das Dumme ist: das habe ich selber jahrelang auch gedacht und bin dann immer an mir verzweifelt, weil ich Lusche nicht mal das bisschen Disziplin aufbringen kann, meine Ernährung und mein Gewicht zu regulieren. Wie lange habe ich eine Diät und Ernährungsumstellung nach der anderen versucht – bis mich die nächste Freßattacke wieder eines besseren belehrt hat.
Ja, ich sehe die Fressattacken auch als eine Sucht, wie Bulemie oder Magersucht. Erst in den letzten Jahren habe ich den Fachbegriff für das gefunden, woran ich schon etwa 25 Jahre leide: Binge Eating. Aha, ich bin also nicht die Einzige! Aha, es wird zumindestens in Expertenkreisen als Suchterkrankung anerkannt (auch wenn es sich in der öffentlichen Meinung noch nicht so durchgesetzt hat, s.o.).
Nein, es liegt nicht daran, dass ich disziplinlos bin, das bin ich nämlich nicht. Es liegt nicht an mangelndem guten Willen, denn den habe ich weiß Gott: seit über 25 Jahren (bei mir ging es langsam mit 7 Jahren los) habe ich alles mögliche und unmögliche probiert, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, Diäten, Sport, Selbsthilfegruppen und Therapien. Kein Problem möchte ich dringender lösen – wie soll ich da keinen guten Willen haben?! Das soll jetzt keine Rechtfertigung sein ("Ich bin krank, ich kann nichts dafür"), aber manchmal reichen Disziplin und guter Wille allein nicht aus. Ich denke, es ist auch wichtig, einen Weg, SEINEN Weg zu finden, und der kann für jede
anders aussehen.
Bei mir war und ist dieser Weg eine Therapie (erst meine dritte, die wirklich geholfen hat!), in der es gar nicht so sehr um das Phänomen Essstörung ging als vielmehr um das Problem Selbstwert und subtile Schuldgefühle. Denn auch bei mir sind/waren die Attacken eine Art Selbstbestrafung und mutwillige Selbstzerstörung. (Wenn ich zwischen Gegenwart/Vergangenheit wechsele, liegt es daran, dass es mir im Moment gut geht und ich gerade in einer "guten Phase" ohne Attacken bin, aber nicht glaube, es nun ein für allemal geschafft zu haben).
Bei mir hilft es also weniger, einem bestimmten Ernährungsplan zu folgen, oder mein Eßverhalten genauestens zu studieren (habe ich auch alles schon gemacht) als daran zu arbeiten, aus diesen Selbstbestrafungsmustern herauszukommen. Wenn ich dadurch die Attacken reduzieren kann, kann ich dann auch abnehmen, denn auch dieses Phänomen ist hier ja schon öfters erwähnt worden: in den "cleanen" Zeiten ohne Attacken nehme ich ganz ohne Diät ab (wenn auch gaaanz langsam)! Denn ich treibe regelmäßig Sport und ernähre mich, abgesehen von den Attacken, gesund. Was dann aber wenig hilft, wenn ich z.B. nach monatelanger Ruhe und langsamer Gewichtsabnahme durch eine neue Freßphase innerhalb weniger Tage alles wieder zunichte mache (damit, Thema Selbstzerstörung, es mir auch ja nicht zu gut geht und auch ja keine neuen Energien freiwerden!).
Kurzum: im Moment bin ich also ganz zuversichtlich, aber mehrere Wochen oder gar Monate symptomfrei sein heisst nicht, es geschafft zu haben. Süchtig sein heisst ja nicht unbedingt, in jedem Moment süchtig zu sein, es gibt ja auch die Quartalstrinker und eben auch –fresser, und da scheint es nicht nur mir so zu gehen. Ich finde es schonmal ein Fortschritt, die Zwischenräume "dazwischen" möglichst weit auszudehnen, das spart schonmal enorm viel Kraft! Nochmal vielen Dank an die andere Betroffenen, die sich hier geäussert haben. Gut zu wissen, dass ich nicht alleine bin!
Liebe Grüße
Sissy Voss