Die meisten, die behaupten, Freunde zu haben, haben in Wirklichkeit nur gute Bekannte. Meist sind es auch noch solche, von denen sie sich berufliche oder gesellschaftliche Vorteile erhoffen. Wenn man nicht das macht oder machen kann, was gerade im Trend liegt, wenn die Lebensumstände atypisch im Verhältnis zu denjenigen anderer, in etwa gleichaltrigen Personen sind, kannst du wirkliche Freundschaften vergessen. Im Erwachsenenalter noch viel mehr als in der Kindheit.
Ich würde heute auch nicht mehr behaupten, Freunde zu haben. Ich habe immerhin wenigstens eine Handvoll Bekannter, von denen ich ab und zu was höre. Treffen sind sehr selten und auch nur mit ein bis zwei Personen überhaupt möglich. Die Kontakte mit den übrigen werden per E-Mail, WhatsApp, Facebook oder telefonisch gepflegt. Ich habe aber zu keinem ein solches Näheverhältnis, dass ich einfach mal anrufen würde, wenn mir nach Plaudern zumute ist. Da hätte ich Sorge, ungelegen zu kommen.
Die Menschen mit den ach so vielen Freunden sind die, die entsprechend ihrer Alters- und Bildungsklasse leben: (Ehe)Partner, oftmals auch Kinder und später Enkelkinder, Eigenheim, sportliche Begabungen und Aktivitäten (bei Akademikern und wohlhabenden Handwerkern oder Unternehmern oft in "gehobenen" Sportarten, die viel Geld kosten, wie Skifahren, Tennis, Reiten, Segeln, Golf etc.; manche geben sich aber auch mit Joggen, Radfahren, Wandern und Schwimmen zufrieden), gehobener Lebensstandard, den gängigen Attraktivitätsvorstellungen entsprechend, zumindest nach außen hin immer schön locker, fröhlich und unbekümmert - dann gehörst du dazu und bist überall gern gesehener Gast. Hast du eher eine einfachere Berufs- und Schulausbildung, machst du dasselbe, nur eben ein paar Nummern kleiner: Häuschen auf dem Lande, Mietwohnung in der Großstadt, preiswertere Sportarten, billigerer Urlaub (vielleicht auf dem Campingplatz oder eben billige Pauschalreiseangebote), Minigolf statt Golf, Kino statt Theater oder klassisches Konzert, Kleinstadtbühne statt Elbphilharmonie, Haustiere, Vereinsaktivitäten etc. Aber auch dann gehörst du in deinen Kreisen dazu und hast viele "Freunde".
Bist du aber alleinstehend, kinderlos, wohnst trotz guten Einkommens in einer Durchschnittswohnung zur Miete (was soll auch ein Alleinstehender mit einem Haus, und manchmal hat man mit Mitte 50 auch keine ETW, weil man sich in jüngeren Jahren als alleinstehende Person noch nicht an einen bestimmten Wohnort binden wollte und Immobilien außerhalb von Dörfern und unattraktiven Gegenden inzwischen einfach hoffnungslos überteuert sind), sportlich hoffnungslos unbegabt und entsprechend desinteressiert an entsprechenden Aktivitäten, entsprichst nicht dem gängigen Schönheitsideal - dann kannst du sehen, wo du bleibst. Bist du dann auch noch freundlich und hilfsbereit, hält man dich höchstens für naiv, bedürftig und nutzt dich aus.
Es reicht auch beileibe nicht, wenn du erfolgreich studiert hast, über eine gute Allgemeinbildung verfügst, tüchtig, kulturell und musisch interessiert bist und dich mit deiner beruflichen Position durchaus sehen lassen kannst. Dein Partner, falls du überhaupt einen hast, muss ebenfalls einigermaßen erfolgreich sein - ist er es nicht, musst du damit rechnen, dass die Leute sich von dir distanzieren oder ihn jedenfalls nicht miteinladen. Hast du über längere Zeit besondere Probleme, die andere in deinem Alter normalerweise nicht haben, und bist dadurch ernster und nachdenklicher als andere, macht dich auch das zum Außenseiter. Dazu reicht es schon aus, wenn Anlass besteht, sich über viele Jahre Sorgen um Personen aus deiner Herkunftsfamilie zu machen (chronisch kranke Eltern oder Geschwister, Suchtprobleme, psychische Probleme etc.). Damit wollen andere nichts zu tun haben, da kannst du zusehen, wie du alleine oder mit rein professioneller Unterstützung damit fertig wirst.
Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass man mit einer "atypischen" Biographie keine wirklichen Freunde und auch nicht viele gute Bekannte haben kann. Ich habe einige sehr schmerzliche Enttäuschungen hinter mir und muss mir das heute nicht mehr geben. Es kostet einfach zu viel Kraft und ist schlimmer, als seine Freizeit überwiegend allein oder nur mit dem Partner zu verbringen. Man muss nur darauf achten, dass man wenigstens noch ein bisschen Smalltalk mit anderen Menschen führen kann und nicht zum totalen Sonderling wird, der mit niemandem mehr spricht und wie ein Einsiedler lebt. Aber dazu braucht man keinen Freundeskreis, da reichen auch Gespräche mit Kollegen oder der Plausch mit der Nachbarin oder der Verkäuferin in der Bäckerei.