Lieber Urban Legend,
das ist ziemlich typisches Büroleben in einem größeren Konzern. So sind die Leute. Da gibt es immer einen, der schon lange nicht mehr wirklich arbeitet und jemand anderen, der nie Arbeit abgeben kann. Da sind die Hetzer, die Neider, die guten Seelen, die Überforderten und die Pflichtbewußten, die Leichtlebigen, die Enttäuschten und und und… All das hat nichts mit Dir zu tun.
Früher gab es mal eine Serie, die hieß "Büro, Büro", lief samstags nach dem Baden. Da hab ich immer gedacht "Lustig, aber total übertrieben". Heute weiß ich, es ist ein gutes Abbild der Realität.
Man kommt gerade als Neuer nach ein paar Monaten, wenn man etwas mehr Einblick gewonnen hat, aus dem Staunen nicht mehr raus. Aber jeder einzelne hat auch seinen Platz, seine Aufgabe, seine Berechtigung und seine Stärken und gehört dazu.
Als Praktikant kommt man da nicht so rein. Das hat aber nichts mit dir zu tun. Wir hatten schon tolle Praktikanten und doch hatte ich kaum die Motivation, sie näher kennenzulernen. Sie sind ja sowieso bald wieder weg. Die kamen und gingen. Ich weiß gar nicht mehr, mit wie vielen Azubis, Praktikanten, Rechtsreferendaren, Zeitarbeitskräften, Aushilfen etc. ich in meinem Berufsleben schon gearbeitet habe. An die Hundert werden es wohl sein. Ich kann mich in den wenigsten Fällen noch an Namen und Gesichter erinnern. Ein Praktikant ist da aus Sicht der Festangestellten wirklich nur einer von vielen.
Und daß die Kollegen launisch sind und sich an unterschiedlichen Tagen ganz anders verhalten, hat im Normalfall auch nichts mit Dir, aber sehr viel mit deren Tagesform und Belastung durch die Arbeit zu tun. Ich kenn das nicht anders, als daß alle oft so eingebunden sind, in Streß und Alltagsdruck, daß sie einfach keinen Kopf für andere haben. Und dann kurz ab antworten, was durchaus auch unwirsch klingen kann. Man denkt sioch dann "ach, der wird wohl Streß haben" oder "ach, der war wohl gerade in Gedanken und hat mein Hallo nicht gehört" oder "ach, der ist eben manchmal so...". Wenn man das jedes Mal auf sich bezieht und sich selbst in Frage stellt, dann kommt man in eine Dynamik, die niemandem gut tut.
Die Frage, warum Du am Freitag nicht um 2 nachhause gehst, klingt sehr nach traditionellem Wochenablauf. Man arbeitet in der Woche etwas länger, um freitags früher gehen zu können. Ich frag Praktikanten auch schon mal, ob sie kein Zuhause haben. Niemand erwartet von Praktikanten Überstunden. Der Hinweis, daß die nicht bezahlt werden, ist doch nett und keine Beleidigung. Als erfahrener Mitarbeiter siehst Du einfach manchmal, daß Azubis, Praktikanten etc. sich selbst viel zu viel Druck machen und ihrer Arbeit eine Bedeutung zumessen, die sie nicht hat. Meist würde der Betrieb ohne Probleme weiterlaufen, wenn der Praktikant gar nichts täte. Aufgaben, die ich Praktikanten gebe, sind meist nicht von solcher Bedeutung, daß allzuviel davon abhängt.
Ich kenne das z.B. von den Rechtsreferendaren, die oft tagelang an einem Gutachten saßen und glaubten, es würde wahnsinnig viel von ihrer Einschätzung eines Sachverhaltes abhängen, dabei wimmelten die Gutachten oft von Anfängerdenkfehlern und waren eh nicht brauchbar. Oder das Gutachten diente nur als erste Einschätzung und gab Hinweise, die es in der weiteren Arbeit zu durchdenken galt. Aber die Rechtsreferendare überschätzten sich dermaßen und kalkulierten ihre mangelnde Erfahrung nicht ein, so daß sie den Wert ihrer Arbeit deutlich überschätzten.
Ein Praktikum dient dazu Berufserfahrung zu erlangen. Einblick in das Berufsleben. Praktische Erfahrung.
Für die Mitarbeiter ist ein Praktikant oft auch eine Belastung, der angelernt und beschäftigt werden muß.
Mach Dir nicht so viele Gedanken. Beziehe das Verhalten der festangestellten Mitarbeiter nicht auf dich als Person. Es hat in erster Linie mit Deiner Rolle als Praktikant zu tun und nicht mit Dir als Mensch.
Nimm doch den letzten Monat gezielt dazu, Dich nicht so sehr auf Deine inhaltliche Arbeit zu konzentrieren, sondern Strategien zu entwickeln, mit den unterschiedlichen Menschen und ihrem Verhalten in so einem typischen Konzern auszukommen. Und Strategien zu entwickeln, Dich nicht ausgeschlossen oder ausgegrenzt zu fühlen. Das Verhalten der Festangestellten nicht unbedingt auf Dich zu beziehen. Ich würde die verbleibende Zeit dazu nutzen zu schauen, wie ich zukünftig gefühlsmäßig gut in solchen Situationen zurechtkomme. Mal zu schauen, warum sind Sätze wie "das brauchst Du nicht zu wissen" etc. so schlimm für Dich sind. Oder wie Du damit umgehen kannst, daß es Dich nicht frustriert, wenn jemand seine Arbeit nicht gut erledigt. Ich denke, dann könnten die letzten Wochen für Dich noch echt interessant werden. Die aktuelle Arbeitssituation als Dein persönliches Versuchslabor zu betrachten bringt dir auf lange Sicht wahrscheinlich mehr als wenn du Dich nur auf die Inhalt, Fristen etc. der Aufgabenerledigung konzentrierst. Ein Praktikum ist ein großes Lernfeld, in dem Du auch solche Erfahrungen machen und daran für zukünftige Arbeitssituationen wachsen kannst.