Der Tag, an dem meine kleine Welt zum Stillstand kam - oder wo alles seinen Ursprung hatte
Ich weiß nicht, was ich beim Tod meines Bruders Tobias empfinden sollte, bzw. kann. Es ist vor allem situationsabhängig. Wenn ich ganz tief in meine Erinnerung eintauche, dann spüre ich deutlich den Schmerz, den dieses Erlebnis bei mir ausgelöst hat.
Ich sitze gerade in einem Starbucks in Bern und tauche in genau diese Erinnerung erneut ein, es ist lange überfällig. Über 30 Jahre lang ist das kein Thema für mich gewesen. Schon witzig, wo einen das Leben so hinspülen kann...
Ich war 4 Jahre alt und wohnte mit meiner Mutter und meinem Stiefvater in einer kleinen Wohnung in einem kleinen Dörfchen, unweit meiner Großeltern bzw. der Eltern meines Stiefvaters. Für mich waren sie immer Oma und Opa, lediglich bei meinem Stiefvater mache ich eine deutliche Unterscheidung, was den Geschehnissen nach diesem Tag geschuldet ist. Damals war er für mich Papa...aber das ist sehr lange her.
Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe - ich habe aber ein klares Bild vor Augen, und dieses entspricht meiner Erinnerung.
Es war um die Mittagszeit, Tobias lag im Bett und hat ein Schläfchen gemacht. Das machen Kinder ja so.
Er hat so lange geschlafen, das war ungewöhnlich. Das erwähnte meine Mutter und ich ging in das Schlafzimmer um meinen Bruder wach zu machen.
Es ist unglaublich, was passiert, wenn man Dinge aufschreibt. Die Tränen laufen mir über das Gesicht, mitten im Starbucks und es ist mir egal. Ich habe diese Gefühle über 30 Jahre verdrängt und es tut wieder so weh, hatte ich doch nie Empfindungen, wenn ich über ihn gesprochen habe.
Er lag in seinem Bettchen sowie immer und doch war etwas nicht richtig. Er sah aus wie eine Puppe, bewegte sich nicht. Er hatte außerdem viele Flecken auf seinem Gesicht, die hatte er vor dem schlafengehen auf gar keinen Fall gehabt...die waren groß und bräunlich. Ich stupste ihn an und flüsterte, er müsse jetzt aufwachen. Keine Reaktion. Ich kannte einen Trick, wie er sich immer regte - habe aber immer Ärger mit meiner Mutter bekommen, wenn sie mich dabei erwischte. Ich drücke ihm sein kleines Näschen zu, dann fängt er immer zu zappeln an und schnauft durch den Mund. Ich habe das witzig gefunden, so habe ich ihn immer ein wenig geärgert.
Meine Mutter war nicht im Zimmer, sie würde es nie mitbekommen. Ich hielt mit zwei Fingern sein Näschen zu - aber nichts ist passiert. Das war total komisch...er regte sich kein bisschen, nicht einmal seine kleinen Ärmchen zappelten. Das hat sonst immer geklappt!
Ich resignierte und habe das Zimmer verlassen. Ich sagte meiner Mutter, dass er nicht aufwacht. Und was dann geschah, werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Jede Sekunde brannte sich ein wie ein Brandzeichen auf meiner Netzhaut, wie ein Brandzeichen in meinem Gedächtnis. Mein Stiefvater hat sich in dem Moment rasiert, er hatte eine hässliche, gestreifte Unterhose an. Er hat immer so einen Retro-Scheiß getragen, vielleicht war das damals in Mode, ich weiß es nicht.
Meine Mutter verschwand in das Zimmer meines Bruders, ich war anderweitig beschäftigt, womit kann ich nicht mehr sagen.
Es gibt Menschen die schreien - und es gibt Menschen die schreien, voll tiefem Schmerz, mitten ins Herz getroffen. Es ist ein Schrei, wenn man ihn hört, ihn nicht mehr vergisst - nie mehr. Es ist der Moment, indem der Verstand begreift, was im Leben gerade passiert ist, wo man realisiert, dass es in diesem Moment dich getroffen hat und keine Familie aus dem Fernsehen oder den Nachrichten. Es ist ein Schrei, der eine neue Ära deines Lebens einleutet, dein altes Leben wird an diesem Tag enden....so ein Schrei ist das!
Es war der Schrei meiner Mutter, als ihr Verstand realisiert hat, was das Leben für eine Karte für uns gespielt hat. Sie rief nur den Namen meines Stiefvaters. Dieser Ruf kam tief aus ihrer Seele, jeder hätte die Verzweiflung, den Schmerz und die Trauer hören können, so auch mein Stiefvater. Er rannte sofort ins Schlafzimmer, den ganzen Rasierschaum noch im Gesicht.
Ich wusste überhaupt nicht, was jetzt passiert. Tobias ist nicht aufgewacht, aber das ist doch jetzt nicht so schlimm. Dann schläft er halt länger, er war sicherlich müde!
Ich rannte auch ins Schlafzimmer. Meine Mutter saß auf dem Bett, hatte meinen Bruder auf dem Arm. Sie hatte beim Betreten des Zimmers die Vorhänge komplett zurückgezogen, der Raum war hell erleuchtet. Jetzt war das wahre Ausmaß zu erkennen, und es traf mich wie ein Schlag. Ich wusste nicht, was nicht stimmte, aber DAS etwas ganz und gar nicht stimmte, habe ich mit meinen jungen Jahren sofort erkannt. Meine Mutter weinte, wie ich sie noch nie habe weinen sehen. Mein Stiefvater kniete vor ihr, berührte meinen Bruder. Meine Mutter streichelte sein Köpfchen und doch bewegte er sich nicht. Sein Arm stand vom Körper ab, in genau der Position, die er bereits im Bett hatte. Sein Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Die Flecken im gesamten Gesicht sahen bei Tageslicht noch bedrohlicher aus, ich hatte überhaupt keine Ahnung, was hier passierte.
Er sah aus wie eines der Puppen in den Kaufhausregalen. Warum wacht er denn nicht auf? So tief kann doch niemand schlafen?!
Mein Stiefvater telefonierte aufgeregt mit jemandem. Zwei mal. Er zog sich eine Hose an, streifte sich ein Shirt über und rannte auf die Straße. Ich habe ihn vorher noch nie weinen sehen. Meine Mutter weinte, keiner erklärte mir, was los war. Meine Mutter schickte mich aus dem Zimmer. Durch das Flurfenster konnte ich meinen Stiefvater sehen, wie er auf der Straße auf und ab lief.
Heute weiß ich, wem die zwei Anrufe gegolten haben. Dem Rettungsdienst und meiner Oma. Der Notarzt war vor meiner Oma da. Wieder einmal stand ich nur im weg. Vier Fremde stürzten in die Wohnung und rannten mich beinahe über den Haufen. Sie nahmen meiner Mutter Tobias aus den Armen und machten Dinge mit ihm, die ich nicht begreifen konnte. Und dann sah ich, dass auch in den Gesichtern der Sanitäter eines deutlich zu lesen war. Heute weiß ich, es war Schmerz. Sie sind zu spät gekommen.
Alle weinten. Meine Oma kam und weinte. Ich konnte nicht anders und musste mitweinen. Ich wusste nicht, wieso, aber alle haben geweint. Wir sind in die Küche gegangen und sind dort geblieben. Ich hörte, sie meine Mutter laut weinte und immer wieder geschrien hat. Heute weiß ich, es war der Moment, indem sie ihn abgeholt haben und sie ihn loslassen musste. Sie sollte ihn nie wieder in ihren Armen halten, ich sollte ihn nie wieder sehen.
Wir sind den Abend noch zu meiner Oma gegangen und haben nie mehr in der alten Wohnung geschlafen Alle haben aufgehört zu weinen, waren aber ganz komisch. Als ich die Küche verlassen habe, war die Wohnung wieder leer. Ich ging ins Schlafzimmer, das war aber auch leer. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer, aber ohne Tobias. Er war weg. Auf meine Frage, wo er war, konnte oder wollte mir niemand antworten.
Auf dem Weg zu meiner Oma war mir alles klar! Tobias war bereits bei meiner Oma! So musste das sein. Ich weiß noch, wie ich unbeschwert und lachend neben meinen Eltern gehüpft bin und gefragt habe ob Tobias schon bei Oma wäre und wie er dorthin gelangt ist. Diese Frage ist mit einem schlichten "nein" beantwortet worden. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich so unschuldig und unbeschwert durch das Leben gegangen bin.
Mein Name ist Filius und ich bin 4 Jahre alt. An diesem Tage hat mir das Leben etwas genommen, was ich nie mehr zurückbekommen kann - meine Kindheit.
In den folgenden Jahren ist sehr viel passiert, was ich Stück für Stück aufarbeiten muss. Und es schmerzt sehr viel mehr, als ich mir das je hätte vorstellen können. Meine Stiefvater hat mir in den folgenden Jahren deutlich vermittelt, dass ich in diesem Bettchen hätte liegen sollen und nicht sein richtiger Sohn! Er hätte leben und ich hätte gehen sollen. Ich habe mich all die Jahre schuldig gefühlt, dass ich lebe und er nicht.
Meine Mutter hat mir nicht gegeben, was ich so dringend gebraucht habe. Ich habe nie getrauert. Ich habe nie das Gefühl bekommen, dass sie glücklich ist, dass ich lebe. Ich habe nie das Gefühl der Geborgenheit erfahren, das Gefühl der bedingungslosen Liebe und doch habe ich so sehr darum gebeten, habe alles für die Zuneigung meiner Eltern getan. All das habe über zwanzig Jahre später bekommen - aber nicht von der Person, von der ich es an den Tagen nach Tobias Tod am Meisten gebraucht hätte - meiner Mutter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass an diesem Tag auch ein großer Teil unserer Verbindung gebrochen ist, wenn sie überhaupt jemals da war. Das alles hat mich in den Jahren meiner Jugend verbittert und zornig gemacht. Meine Gedanken sind vergiftet.
Es ist der 3-jährige Junge, der jetzt in Bern in einem Starbucks sitzt, einen Caramel-Macchiato trinkt und um seinen verstorbenen Bruder weint. Ich glaube, der kleine Filius ist stolz auf mich - und Tobias wäre es auch.
Ich weiß jetzt, dass ich nicht schuld an deinem Tod bin. Wo auch immer Du bist, ich vermisse Dich. Ich liebe Dich. Danke für die 8 Monate mit Dir.
Dass es heute passiert, dass ich mich mit diesem Kapitel auseinandersetze, habe ich einem Raben zu verdanken. Er landete direkt neben mir und schaute mir lange in die Augen ohne sich zu bewegen. Es war das unbeschwerte Kind in mir, welches mir gesagt hat, dass es keinen Sinn mehr hat zu warten, es wird nicht besser. Es ist lange überfällig.
Du da, der Du diese Geschichte liest, warte nicht zu lange. Wir leben den Moment, nicht das gestern oder Morgen.
Es ist schwer, einen Sinn in dem zu sehen, was man erfährt - und doch hat es einen. Früher oder später werden wir ihn erkennen.
Alles wird gut.