Das ist eine interessante Frage.
Meine These: Reue ist nicht bedeutungslos, aber relativ nutzlos, und dennoch kann man sich ihr manchmal nicht erwehren. Jeder Mensch begeht in seinem Leben Taten, die er hinterher bereut - das muss ja nichts Grosses sein, ein falsches Wort an falscher Stelle genügt - und jeder Mensch trifft Entscheidungen, die er rückblickend anders getroffen hätte.
Es gibt in der Rationalitätstheorie die These, dass insbesondere Entscheidungen immer unter Unsicherheit erfolgen, weil man sich nur dann wahrhaftig entscheiden muss, wenn man zu wenig über den Ausgang einer Situation unter bestimmten Bedingungen weiss. Denn wäre man sich sicher, wüsste man, wie eine Situation unter bestimmten Bedingungen ausgeht, müsste man letztlich keine Entscheidung treffen, dann läge die Wahl einer von mehreren Alternativen klar auf der Hand. Der Ausgang der zur Wahl stehenden Alternativen ist quasi immer dann, wenn man sich entscheiden muss, wahrhaftig unklar.
Ähnlich ist es mit sozialer Dynamik, die einen immer irgendwie mitreisst, in der ein Wort das andere ergibt - und jeder von uns kennt die Situation, in der man plötzlich Dinge sagt, die man so eigentlich nicht sagen wollte, oder dass man von den eigenen Worten (auch positiv) ganz überrascht ist. Gerade soziale Dynamiken sind so komplex und so viele Faktoren wirken auf Gesprächsverläufe ein - andere sind schliesslich auch denkende Menschen und wir sehen nicht, was sie denken, es gibt da immer ein Leben abseits des Gesprächs und Gesprächsverläufe haben zusätzlich noch ihre Eigendynamik - dass es unmöglich ist, soziale Dynamik direktiv und rational mit dem eigenen Verhalten zu steuern.
Das heisst nicht, dass ich nichts positiv oder negativ beeinflussen kann - wir können uns bspw. anstrengen, besonders freundlich oder zugewandt zu agieren oder uns aus guten oder weniger guten Gründen dafür entscheiden, uns feindselig und ablehnend zu verhalten. Es heisst aber, dass alle Freundlichkeit und Zugewandtheit manchmal nicht ausreicht. Und es heisst auch, dass man manchmal vielleicht auch gar nicht anders kann. Oder dass der Andere nicht anders kann. Man wird von der Situation mitgerissen, innerlich und äusserlich, ob man will oder nicht. Jeder kennt das.
Das widerspricht unserem Selbstverständnis, dass wir rational und vernünftig denkende Menschen sind, die das eigene Leben gestalten und verändern können. Entsprechend kommt vielleicht das Gefühl auf, das könne so gar nicht sein. Es macht schliesslich Angst, wenn man damit konfrontiert wird, dass man nicht immer alles so im Griff hat, wie man das gern hätte. Die Welt ist aber so komplex, ich halte es für völlig ausgeschlossen, sie direktiv steuern zu können. Das heisst nicht, dass ich mich nicht besser oder schlechter durch die Welt bewegen und mich in ihr gut einrichten kann. Es heisst auch nicht, dass wir alle frei von irgendeiner Art "Schuld" sind. Es heisst aber, dass viele Faktoren jeweils eine Rolle spielen, die bestimmte Eigendynamiken entwickeln, und dass man sie so exakt unmöglich in jeder Situation alle antizipieren kann.
Entsprechend, denke ich, kann man den Fortlauf des eigenen Lebens über das eigene Verhalten nicht immer so rational und direktiv steuern, wie man sich das wünschen würde. Und entsprechend bringt auch Reue nicht viel - denn wenn ich Reue empfinde, empfinde ich traurige Verantwortung für mein als falsch bewertetes Verhalten in einer bestimmten Situation.
Wer sagt denn aber, dass ich dieser bestimmten Situation auch unbedingt anders hätte handeln können? Dass alles nur von mir und meinem Verhalten abhing? Dass Entscheidung B sicher zum Erfolg geführt hätte oder zumindest irgendwie besser gewesen wäre, und dass andere Worte die Situation hätten so anders ausgehen lassen? Wer sagt, dass ich es "beim nächsten Mal" wirklich besser machen kann? Man kann das versuchen. Aber jeder von uns kennt das: Man macht den gleichen Fehler auch gern zwei Mal oder mehrmals. Auch dann, wenn man das nicht will. Man hat vielleicht dies oder das übersehen. Und es kommen die neuen Faktoren X und Y hinzu. Die ganze Komplexität der Welt zu überblicken, ist schier unmöglich.
Das macht die empfundene Verantwortung nicht leichter zu tragen und es heisst auch nicht, wie gesagt, dass niemand eine Verantwortung hat - es ist aber aufgrund der Komplexität der Welt eben fraglich, inwiefern diese Verantwortung wirklich hätte zum Tragen kommen können und nicht immer kann bestimmt werden, welche Faktoren nun ausschlaggebend waren und welche nicht. Dazu werden bestehende Faktoren nicht auf Null gesetzt. Und letztlich macht Reue die falsche Entscheidung und das falsche Verhalten nicht ungeschehen.
Reue ist also auf der einen Seite relativ nutzlos, denn weder kann sie den ähnlich missfallenden Fortgang einer neuen, ähnlichen Situation in Zukunft sicher verhindern aufgrund der Komplexität der Welt, noch kann sie den vergangenen Fortgang, den man bereut, ungeschehen machen.
Reue ist aber auf der anderen Seite nicht bedeutungslos. Wir gehen ja, wie schon erwähnt, grundsätzlich in unserem Selbstverständnis, das sich aus der alteuropäischen Denktradition speist, davon aus, dass wir rational und vernünftig handelnde Menschen sind, die Verantwortung für das eigene Handeln tragen und entsprechend immer darüber entscheiden können, etwas auch ganz anders zu machen. Die Komplexität der Welt kommt in diesem Selbstbild gar nicht oder nur sehr begrenzt vor. Es gibt dieses Selbstbild aber, entsprechend hat man bisweilen eine Wut auf andere Menschen, weil sie nach diesem Selbstbild ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Wenn der Andere erkennt, dass ich den Fortgang einer Situation bereue, dass ich meine zugschriebene Verantwortung in dieser Situation übernehme, dass ich sehe, dass ich nach meinem Selbstverständnis hätte anders handeln können (auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt), dass ich v.a. anerkenne, dass der Andere mein Handeln missbilligt und ihm dies zugestehe, kann Reue Situationen im Nachgang sozial positiv beeinflussen, deeskalieren, mein Standing verbessern. Das heisst aber nicht, dass das immer funktioniert (wir kennen das - Entschuldigungen werden nicht immer angenommen). Und das heisst auch nicht, dass dies für die Zukunft tragend ist.
Wenn ich selbst erkenne, dass ich den Fortgang einer Situation bereue, dass ich meine zugeschriebene Verantwortung übernehme, dass ich sehe, dass ich nach meinem Selbstverständnis anders hätte handeln können, dann tut der Fehler vielleicht gar nicht mehr so weh, weil ich ihn nach meinem Selbstverständnis korrigieren könnte.
Das heisst auch nicht, dass uns die Situation nicht wieder entgleist (wir kennen das - das nächste Mal verläuft die Dynamik doch wieder so, wie wir es eigentlich nicht wollen, Reue setzt - nochmal - alles Geschehene und alle Faktoren eben nicht auf den Nullpunkt zurück). Und es heisst auch nicht, dass wir danach alles genau so in der Hand haben, wie wir das gerne hätten (auch das kennen wir, manche Dinge gehen trotzdem wieder schief). Aber für den Moment fühlen wir uns eben besser und so, als hätten wir doch alles am Ende irgendwie im Griff. Als könnten wir nächstes Mal alles einfach ganz anders machen. Man fühlt sich "empowered".
Reue kann zumindest symbolisch dafür stehen, dass wir es eben auch gern anders gehabt hätten und es uns in Zukunft anders wünschen würden. Reue hat damit eine Bedeutung als einer der vielen weiteren Faktoren, die soziale Dynamik und individuellen Gedankengang im weiteren Verlauf beeinflussen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Das kann positiv sein, wie wir es uns wünschen würden. Und manchmal klappt das so. Manchmal aber eben auch nicht.
Zugegeben, das ist jetzt alles nicht mega stringend argumentiert (ich kann das besser, ich weiss), und ich weiss nicht, ob irgendjemand diesen ellenlangen Beitrag wirklich liest, aber das wären meine ansatzweise strukturierten Gedanken zur Ausgangsfrage und entsprechend leitet sich meine Haltung zu Reue davon ab.
Ich habe in meinem Leben nur sehr selten bereut. Einfach, weil ich nie sicher sagen kann, dass ein anderes Verhalten, eine andere Entscheidung, zu einem wünschenswerteren Ausgang der Situation geführt hätte.
Ich kann Reue aber offen kommunizieren und dahingehend als Symbol für mein Selbstverständnis gezielt nutzen, um sie ggf. als abmildernden Faktor in soziale Dynamik einzubringen oder um mich selbst zu beruhigen. Ich kann mich aber nie darauf verlassen, dass das wirklich funktioniert. Und ganz oft funktioniert es nicht.
Weil ich das Leben nicht so im Griff habe, wie ich es gern hätte. Das ist aber auch irgendwie schön. Ich mag es bisweilen, mich in der Dynamik treiben und mich von der Welt überraschen zu lassen.
Viele Grüsse
Santino