Das ist der springende Punkt. Meine Verwandten haben sich schon zurückgezogen, als ich vor über elf Jahren Probleme mit meiner psychisch schwerkranken Schwester hatte, die mit meiner Mutter zusammenlebte. Nach dem Tod meiner Mutter zogen sie sich erst recht von mir zurück. Wer war damals nahezu als einziger Mensch für mich da? Die Nachbarin, die gegenüber meinem Elternhaus wohnte und sich auch um meine Mutter gekümmert hatte. Selbst in den letzten Lebenswochen, als meine Mutter einen ganz schweren Schlaganfall erlitten hatte, hat sie sie noch besucht. Die Verwandten kamen nur noch zur Beerdigung. Danach gingen sie auf Distanz und überließen mich mit meinen Problemen mit meiner Schwester während der Erbauseinandersetzung meinem Schicksal. Leider ist die Nachbarin im Mai 2021 auch verstorben. Mein Partner, mit dem ich 2011 beim Tode meiner Mutter erst kurz zusammen war, hat mir auch Halt gegeben. Leider ist er im Mai dieses Jahres auch ganz plötzlich und unerwartet verstorben.
Statt einfühlsam darauf einzugehen, geruht meine Cousine, mich am Abend des 2. Weihnachtsfeiertags anzurufen, hauptsächlich um mir mitzuteilen, dass ihr Lebensgefährte (beide geschieden) nun vor ihr "auf die Knie gegangen" sei und ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Schiefgehen könne wohl nichts mehr, schließlich seien sie seit nunmehr 26 Jahren zusammen. Der Hochzeitstermin steht zwar noch gar nicht fest, aber diese Nachricht musste sie unbedingt an dem ersten Weihnachtsfest, das ich allein und ohne meinen Partner verbringen musste, noch loswerden. Offenbar duldete die Mitteilung keinen Aufschub bis nach Neujahr. Mein Partner und sich sind bzw. waren im selben Alter wie sie und ihr Bräutigam.
Silvester habe ich noch Glück im Unglück. Meine Haushaltshilfe, eine ältere Dame, die früher als Sozialarbeiterin tätig war und sich mit der Putzstelle die Rente ein wenig aufbessert, will in einen bestimmten Film im Programmkino gehen. Sie ist geschieden und hat auch nie wieder einen Partner gefunden, wohl aber Freunde, die an Silvester aber auch alle etwas anderes vorhaben. Ihrer Tochter und deren Familie will sie wohl auch nicht ständig auf die Pelle rücken. Da hat sie mir angeboten, sie zu begleiten, aber ganz behutsam, ich solle mich zu nichts verpflichtet fühlen. Ich habe aber Lust dazu und habe zugesagt. Ich verstehe mich gut mit der Dame. Sie schreibt gern, ähnlich wie ich, und macht sich auch mehr Gedanken um andere Menschen als die meisten, die ich kenne.
Die restlichen Silvester meines Lebens werde ich (59) auch allein zubringen. Vielleicht werde ich aber in Zukunft über Weihnachten/Silvester auch verreisen. Und sollte mir noch ein längeres Leben vergönnt sein als meinem Partner, werde ich irgendwann wahrscheinlich Silvester im Pflegeheim oder Krankenhaus verbringen. So war es bei meiner Mutter gegen Ende ihres Lebens (sie durfte immerhin 86 werden) auch mehrfach. Dann braucht mich auch niemand anzurufen, um mir mit Sensationsstorys Weihnachten und den Jahreswechsel zu verderben und mir dick vor Augen zu führen, dass ich allein bin.
Ich finde es auch schlimm, dass alle Welt erwartet, dass man an Silvester etwas mit anderen unternehmen muss. Ich habe im Beruf viele Menschen um mich und bin froh, wenn ich abends, an den Wochenenden und im Urlaub meine Ruhe habe. Silvester ist ja auch ein nettes Fernsehprogramm. Hätte meine Haushaltshilfe mir nicht angeboten, mit ihr den Film anzuschauen, wäre ich wahrscheinlich in ein Silvesterkonzert in der Kirche gegangen. Oder ich hätte mir einen Film im TV angesehen, noch wahrscheinlicher aber eine DVD oder einen Film über Netflix. Den Abend hätte ich schon herumbekommen.