Hey
@Träumelinchen ,
schwieriges und komplexes Thema, finde ich!
Ich sehe es eher aus einer anderen Perspektive als du. Schlussendlich ist es sehr heikel und braucht viel Abwägung. Stumpfes verbieten ist schwierig, undemokratisch und führt eher dazu, dass sich solche Meinungen anderweitig Raum suchen, ja. Aber ich denke, es braucht Grenzen. Das Problem ist, dass polemische, oft falsche, vermeintlich "klare" Aussagen von z.B. zB AfD-Politiker*innen sehr viel eingängiger sind als die komplexeren, differenzierten Antworten darauf.
Beispiel: AfD Politiker A sagt "Migration im heutigen Ausmaß gefährdet Deutschlands Sozialsystem, verschlechtert die Bildung unserer Kinder, gefährdet unsere Frauen, führt Deutschland ins Chaos. Man muss die Realität anerkennen wie sie ist! Leugnung bringt den Bürgern vor Ort nichts und was in irgendwelchen Universitäten diskutiert wird, hat mit dem Leben der Menschen vor Ort nichts zu tun!".
Das ist erstmal sehr simpel, sehr verständlich, trifft wahrscheinlich bei vielen Menschen ein vages Gefühl, man findet irgendwo im Bekanntenkreis oder im eigenen Erfahrungsspektrum Erinnerungen, mit denen man anknüpfen kann. Es gibt Zustimmung.
Um das jetzt alles wieder auseinanderzunehmen, sich die ganzen Teilbereiche anzuschauen, Schulen, sexualisierte Gewalt, unser Sozialsystem usw. braucht es Zeit. Die Antwort kann nicht so einfach ausfallen, es sind mehr Worte nötig, kompliziertere Analysen. Diesen Analysen werden viele Menschen folgen, sich dafür interessieren, aber ziemlich viele vermutlich auch nicht, weil es dann zB in die zuvor geöffnete Schublade "jaja, euer elitäres Gelaber hat mit unserer Realität nichts zu tun" gepackt wird.
Das klingt jetzt ein bisschen abwertend, aber so meine ich das nicht. Emotionalisierende, catchy Aussagen bleiben einfach hängen, passiert mir ja auch manchmal. Es braucht Ausdauer, Interesse und Zugang zu Informationen, um das dann wieder zu dekonstruieren, die Zeit und Lust hat man im Alltag nicht immer.
Außerdem denke ich direkt an das Toleranz Paradoxon. Es ist gefährlich, Aussagen zu tolerieren, die selbst intolerant sind, anderen Menschen das Leben schwerer machen und langfristig ein gleichberechtigtes Nebeneinander ganz unterschiedlicher Menschen und Lebensrealitäten gefährden.
Den Begriff "Cancel Culture" im üblichen Gebrauch finde ich schwierig. Das wird ja oft den Linken vorgeworfen und klar, gibts Forderungen, bestimmten Haltungen keine Bühne zu bieten. Das Problem: Oft geht es bei diesen Haltungen, denen man keine Bühne bieten will, darum, dass eben die Lebensrealität anderer Menschen "gecancelt" werden soll. Wie viel Propaganda gibt es gegen queeres Leben, gegen Stimmen von Migrant*innen? Wie häufig wird gefordert, zB bestimmte Themen nicht mehr in Schulen zu behandeln (ergo: zu verbieten)? Wie voll sind die Kommentarspalten bei Facebook & Co. mit rechten Meinungen, die darüber abhaten, wieso eine queere Person portraitiert wird, usw.? Meiner Ansicht nach ist das mindestens genauso "Cancel Culture" oft noch deutlich aggressiver. Deswegen würde ich davon abraten, den Begriff einfach zu verwenden, da er schlussendlich ein Kampfbegriff der Rechten ist, die sich freuen, wenn er sich immer weiter verbreitet.
Mein Plädoyer ist nicht, dass man AfD-Politiker*innen grundsätzlich nicht mehr einladen sollte, ich denke, das wäre falsch. Aber ich denke, man muss sehr vorsichtig sein und sich darüber bewusst sein, dass eine einfache Aussage, ist sie auch noch so falsch, eher hängen bleibt, als eine komplizierte Entgegnung darauf.
Steht es wirklich schlecht um die Meinungsfreiheit? Kritiker der sogenannten Cancel Culture beklagen das laut und hörbar. Hinter der Behauptung, es gebe Zensur, steckt etwas anderes, meint die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier.
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