Liebe Kannja,
erstmal möchte auch ich sagen, dass ich sehr gut verstehen kann, wie niederschmetternd das alles ist. Ich kenn das auch, Verlusterfahrungen, die zwar nicht ganz mit deiner Situation vergleichbar sind, wo ich aber auch dachte: "Das ist das Ende!" Schon in meiner Schulzeit gab es Lehrer, später Ausbilder oder andere Menschen, die mir so wichtig waren, dass ich mir sicher war, deren "Verlust" nie verkraften zu können. Rückblickend lag in diesen schweren Zeiten immer auch eine Chance. Aber obwohl ich rückblickend diese Chancen so klar sehen kann und froh und dankbar bin, dass sie mir geschenkt wurden (selbst wenn der Verlust manchmal immer noch ein wenig traurig macht), bin ich ziemlich sicher, dass ich an deiner Stelle im Moment auch einfach nur verzweifelt, traurig und hoffnungslos wäre... Ich könnte mit ziemlicher Sicherheit das, was ich dir jetzt gerne sagen möchte (und wovon ich wirklich überzeugt bin!) auch nicht wirklich so empfinden. Aber vielleicht kannst du dich (das würde ich zumindest versuchen) an den Gedanken klammern, auch wenn du ihn (noch) nicht fühlen kannst.
Im Grunde ist es das, was auch Bird schon geschrieben hat. In diesem Verlust, in dieser Not, liegt ein unglaubliches Entwicklungspotential! Auch wenn es vielleicht ein ganz schlechter Zeitpunkt ist, grade jetzt, wo es auch mit deinem Bruder so blöd läuft, ist es wirklich gut und wichtig für dich, zu lernen noch mehr Menschen zu vertrauen.
Meine alte Therapeutin war so eine Vertrauensperson für mich geworden. Ich habe mich nie vorher jemandem so anvertrauen können und war ja immer mit allem allein, musste alles mit mir selbst ausmachen. Deshalb ist es für mich generell so schwer so ein Vertrauen zu fassen und mich so öffnen zu können. ?
So wie es dir damals gelungen ist, wird es dir wieder gelingen! Dass du dich dieser Therapeutin öffnen konntest, lag mit absoluter Sicherheit nicht nur an ihr, sondern auch an dir. Du hast diese verborgene Fähigkeit zu vertrauen damals (mit ihrer Hilfe) wiederentdeckt. Versuche dich auf diese Fähigkeit zu besinnen und nicht so sehr darauf, wie schwer es dir generell fällt, dich zu öffnen.
Ich vermute, wenn dich jemand fragt, wie es dir gelungen ist, dieser Therapeutin damals Vertrauen zu schenken, fallen dir alles erstes lauter Eigenschaften oder Fähigkeiten von ihr ein, die dir das Vertrauen erleichtert haben. (Geht mir genauso, wenn ich über die Menschen nachdenke, bei denen mir das Vertrauen leichter fiel als bei anderen.) Aber geh doch mal auf die Suche nach den Gründen bei dir. Was hat sich in dir getan? Was war bei dir (innerlich) damals los, dass du dich öffnen konntest? Vielleicht kannst du dann ein bisschen leichter auch auf dich vertrauen und dich an deine Fähigkeit erinnern, jemandem Vertrauen zu schenken.
meine alte Therapeutin wusste halt fast alles von mir, kannte meine ganze Vorgeschichte, all die wesentlichen Details und hat erlebt wie bestimmte Situationen sich auf mich auswirkten. Es ist sehr schwer jetzt einer neuen Person die all das nicht kennt und weiß zu erklären wieso ich stehe wo ich stehe oder wieso mich bestimmte Dinge gerade so traurig machen usw.
Dass du nun gezwungen bist, dass alles nochmal neu jemand anders zu erklären, kann auch eine riesengroße Chance sein. Diese neue Therapeutin, ist ein anderer Mensch und hat dementsprechend wieder andere Gedanken dazu. Vielleicht gelingt es ihr, Dinge zu sehen und zu verstehen, die deine alte Therapeutin nicht so deutlich bemerkt hat. Beides zusammen ergibt vielleicht ein vollständigeres Bild, das dich einen großen Schritt voranbringt.
Ich glaube auch, dass man je nachdem mit wem man spricht, den gleichen Sachverhalt immer ein wenig anders schildert. Ihr wirst du deine Geschichte anders erzählen, als damals deiner alten Therapeutin. Und das ist gut so, weil du dadurch dich selbst wieder in einem anderen Licht, unter einem anderen Blickwinkel siehst und noch einmal mehr verstehst.
Man versteht ja ohne den kompletten Zusammenhang zu kennen vielleicht auch gar nicht wieso jemand sich in einer aktuellen Situation gerade so "anstellt" bzw. warum etwas so schwer ist... Ich habe Angst, dass die neue Therapeutin mich vielleicht gar nicht verstehen wird. Sie ist ja auch erstmal komplett fremd, ich starte also wieder am Punkt null. ?
Hier spürt man wieder sehr deutlich, wie unsicher du dir selbst gegenüber bist. Du hast Angst, sie könnte glauben, dass du dich nur "anstellst". Du hast Angst, sie könnte deine Gründe nicht so recht ernst nehmen. Und ich denke, dass liegt daran, dass du dir selber nicht sicher bist, ob deine Gründe "ernst genug" sind. In dir glimmt immer noch die Angst, dass die Menschen, die glauben, du stellst dich nur an, damit Recht haben könnten, oder?
Genau diese Angst macht es dir so schwer, wieder neu zu vertrauen, stimmts? Vielleicht hilft dir der folgende Gedanke: Je mehr du ihr vertraust, je mehr du ihr anvertraust, je offener du bist, desto weniger wird sie glauben, dass du dich nur anstellst. Je genauer sie die Zusammenhänge kennt und deine Probleme und Ängste kennt, desto klarer wird ihr sein, dass deine Gründe wirklich ernst sind. Und im Gegenteil dazu: Je mehr du versuchst, etwas zu verharmlosen zu beschönigen oder gar zu verheimlichen, desto weniger wird sie deine Gründe nachvollziehen können.
Das heißt: Das was du verhindern willst (indem du zurückhaltend bist und nicht so viel Vertrauen schenkst), nämlich dass sie dich mit ihrem Urteil verletzt, indem sie dir signalisiert, du würdest dich vielleicht nur "anstellen", genau diese Gefahr besteht viel eher, wenn du dich verschließt und dein Innerstes vor ihr schützen willst. Wenn du dich dagegen in all deiner Verletzlichkeit und Schwachheit zeigst, bin ich sicher, sie wird dich verstehen und nicht verurteilen.
Wobei ich auch glaube, dass mit ein wenig Geduld, sie dich auch dann verstehen wird, wenn es dir nicht gleich gelingt, dich ihr zu öffnen! Trotzdem wäre es sicher gut, wenn du versuchst, im Hinterkopf zu behalten, dass bei zu großer Zurückhaltung viel eher die Gefahr besteht, dass das passiert, wovor du Angst hast.
Meine alte Therapeutin hat mir irgendwie Halt gegeben, gerade weil sie halt so konstant da war... der einzige Anlaufpunkt für mich. Der einzige Mensch auf den ich mich verlassen konnte.
Stell dir vor, wie schön das wäre, wenn es nach und nach in deinem Leben immer mehr Menschen gibt, auf die du dich verlassen kannst und denen du vertrauen kannst! Genau dahin will dich das Leben gerade schubsen! Glaub an dich!
Liebe Grüße
M.