Als Peking vor sieben Jahren zur Olympiastadt 2008 gewählt wurde, verband sich für sehr viele Menschen damit auch die Hoffnung, dass sich die Öffnung Chinas beschleunigen würde. Und diese Hoffnung war auch nicht nur unberechtigt, doch hinter einer schwindelerregenden wirtschaftlichen Liberalisierung ist die politische Erneuerung bis heute meilenweit zurückgeblieben.
Nun jetzt die Frage, Olympiaboykott ja oder nein: Ein breiter Chor – angefangen beim Dalai Lama bis zum IOC, von Merkel bis zu amnesty international – sagt dazu: Nein! Und wer die Gesamtheit (!) der Diskussion sieht, der muss zugeben: Sie haben alle recht. Denn für Demokratie und Freiheit wäre nichts gewonnen, im Gegenteil, und ich vertrete diese Ansicht: Gerade die Olympischen Spiele stellen China auf den Prüfstand, Tag für Tag. Die ganze Welt schaut zu. Und die Welt wird sich nichts vormachen lassen und auch nicht an alles glauben, was sie dort zu sehen und zu hören kriegen wird.
Ich glaube, die jetzige Kontroverse über die richtige Reaktion im Bezug auf Olympia und auf den Gewaltausbruch in Tibet hätten am liebsten alle anders gelöst. Alle wollen die Spiele in Peking, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Die einen wegen der Sportler, die sich seit Jahren auf das größte Fest des Sportes vorbereitet haben; die anderen, weil sie glauben, China werde mit der Opposition im eigenen Land anständiger umgehen, wenn die ganze Welt mit Argusaugen auf das Land schaut. Andere wieder aus Respekt vor der alten Kulturnation, die sich auf den langen Marsch der Modernisierung gemacht hat. Und nicht zu vergessen die vielen Verfechter des schlichten kommerziellen Interesses.
Die Vergabe der Spiele an China erfolgte doch von Anfang an mit einem gewichtigen Hintergrund: Sie sollten die Rückkehr Chinas in die Staatengemeinschaft symbolisieren, eines Chinas, das mit der selbst gewählten Isolation der Mao-Jahre gebrochen hat, das sich in rasendem Tempo verändert.
Und die Welt um China herum braucht die Volksrepublik: Bei den Nuklearverhandlungen mit Nordkorea, beim Atomstreit mit Iran, beim Klimaschutz genauso wie beim Kampf gegen den internationalen Terror. Und wenn ich lese, dass Chinas Regierung Währungsreserven von mehr als 1500 Milliarden Dollar aufgehäuft hat, dann steckt darin doch ein riesiges Potential und damit trägt China für eine Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte heute keine geringere Verantwortung als die amerikanische oder die europäische Notenbank.
Dem Regime in China ist wahrlich genug vorzuwerfen. Die massenhafte Verhängung der Todesstrafe. Die Diskriminierung der Minderheiten – und dazu zählen nicht nur die Tibeter, ich habe erst jetzt davon gelesen: sondern auch der muslimischen Uiguren. Die Niederschlagung des noch so kleinsten politischen oder sozialen Protestes. Die Internetzensur. Die Zerstörung der Umwelt. Die unglaubliche Korruption. Die Bedrohung Taiwans mit fast tausend Mittelstreckenraketen. Die Liste dessen, was man Chinas Führern zur Last legen muss, ist lang.
Aber – und das darf bei aller moralischen Empörung nicht vergessen werden, und das vermisse ich hier in der ganzen Diskussion um den Olympiaboykott: Chinas Bürger genießen im privaten Leben heute größere Freiheiten als je zuvor in der Geschichte ihres Landes. Für Millionen Chinesen haben sich die Lebensverhältnisse ein Stück nach vorn verändert und das ist eine gewaltige Leistung. China ist doch nicht nur Regierung und Diktatur, China hat doch auch ein Volk, mit Hoffnung auf Veränderung, mit Menschen, die dafür kämpfen. Ich finde, von daher haben wir keinen Grund, über China nur absolut zu richten.