Im Bücherständer entdeckt: "Südtiroler Sagen". Ich liebe solche Sammlungen alter Sagen, aber nur wenn die Urfassungen der Sagen vor dem 20. Jahrhundert zusammengestellt wurden, denn in "modernen" Sagenbüchern mischen sich gern rein erfundene moderne Gruselgeschichten von Edgar Allan Poe bis Stephen King, von Poltergeist bis zum Blair Witch Project darunter.
Die echten, alten Sagen allerdings haben sehr häufig einen wahren Kern, den man herauskitzeln kann. Deshalb sind die Sagenbücher die besten, die hinter jeder Sage einen Anhang haben, wo die historischen Hintergründe der Geschichte erklärt werden.
Das war bei diesem Buch leider nicht der Fall, aber bei einigen Geschichten spitzt trotzdem der wahre Hintergrund heraus. Zwei Beispiele:
eine Geschichte erzählt von Hexen, die einer lebendigen Kuh das Fleisch aus dem lebendigen Leib herausschneiden um es zu essen, und hinterher zaubern sie die Haut so gut wieder zusammen, daß man von den Schnitten nichts sehen kann. Der Bauer wundert sich nur, warum seine vorher fette Kuh plötzlich mager ist und bald danach wegstirbt.
Die Erklärung der Geschichte ist sehr real, nämlich TBC (Tuberkulose), aus guten Gründen auch "Schwindsucht" genannt, die im Mittelalter bei Mensch und Tier gleichermaßen verbreitet war. Da man damals nichts von ansteckenden Krankheitserregern oder deren Bekämpfung wußte, hielt man es für das Werk von Hexen, Vampiren und Succubi ("Saugern"), wenn gesunde Tiere und Menschen plötzlich "dahinschwanden", dürr und blutarm wurden und jede Lebenskraft einbüßten.
Beispiel 2: Viele Sagen erzählen von den "Venedigern", die mit Zwergen identifiziert wurden und daher in den Sagen immer kleiner gemacht wurden, bis auf Barbie-Größe. Aber die "Venediger" gab es wirklich, es waren meistens Italiener, denn im frühen Mittelalter gab es in Italien Bergbau-Schulen, in denen Leute darauf trainiert wurden, wie man Bodenschätze aufspürt. Heute nennt man solche Leute "Prospektoren", und diese "Venediger" durchstreiften dann die damals vielerorts noch sehr wilden und unbesiedelten Alpen und Mittelgebirge, auf der Suche nach Vorkommen von Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Edelsteinen oder Salz (auch ein Reichtum damals).
Wenn sie etwas fanden, waren sie eigentlich dazu verpflichtet, den jeweiligen Landesherren zu informieren, damit der die Rohstoffe abbauen konnte, wenn sie aber auf ein gut verstecktes und leicht abzubauendes Vorkommen stießen, ist es sicher öfter vorgekommen daß sie die Förderung auf eigene Tasche betrieben und die abergläubischen Bewohner der Gegend mit allerlei Mummenschanz und faulen Tricks verscheuchten und fernhielten. Viele Geschichten über Venediger erzählen davon, daß sie sehr gut darin waren, ihre Bergwerksbetriebe zu tarnen.
Und deshalb dürften viele Sagen über "mysteriöse Lichterscheinungen" und andere sonderbare Vorkommnisse in Bergen und dichten Wäldern wahlweise auf sehr reale Wilderer, Räuberbanden, Schmuggler und eben diese "Venediger" zurückzuführen sein.
Aber auch sogenannte "Erdbebenlichter", die in tektonisch aktiven Gebieten (entlang geologischer Bruchzonen) zuweilen am Nachthimmel zu sehen sind und heute meistens für UFOs gehalten werden, sind in alten Sagen verewigt worden, oft in Verbindung mit einem Himmelsphänomen genannt "die Wilde Jagd", Rückgriff auf heidnische Zeiten mit antiken Jagd- und Wettergöttern, als Wotan mit Gefolgschaft noch selber über den Himmel brauste.
Mysteriöses Leuchten: Forscher erklären Erdbebenlichter - DER SPIEGEL Auch in Südtirol gibt es solche Bruchzonen
Die Erdbeben-Bruchzone – Die Neue Südtiroler Tageszeitung