Liebe Gisela,
du musst eine starke Frau sein, wenn du 9 Kinder groß gezogen hast und deine Tochter sicher ins eigenständige Leben entsandt hast. Da stellt sich mir die Frage, warum du bei deinem Sohn so schwach bist und ihm dieses auch zeigst. Ich muss meinen Vorredner zustimmen, die sagen, du würdest ihm damit nur noch mehr Angriffsfläche bieten und es wird bestimmt nicht besser. Kann es sein, dass ihr verschiedene Sprachen sprecht? Dass dich die Situation fertig macht, kann ich sehr gut verstehen. Vielleicht kann ich dir mit der Erzählung über die letzten Jahre mit meinem Sohn (20 Jahre) etwas helfen, Klarheit zu bekommen.
Im Jahr 2002 war ich mit ihm erstmalig beim Kinderpsychologen, da er in der Schule immer auffälliger geworden war. Er war ein kleiner Professor, der immer alles besser wusste, hatte aber mit den anderen Kindern keine Kontakte. Und wenn gab es Streit, der manchmal so ausartete, dass er etwas zerstörte oder die Kinder tätlich angriff. Zuhause zog er sich immer mehr in sein Zimmer zurück und war teilweise nicht ansprechbar. Sein Verhalten wechselte ständig zwischen Kleinkind und besserwissendem Erwachsenen, so dass unser Verhältnis immer gespannter wurde. Nachdem er auch in unserer Siedlung zwei Gleichaltrige tätlich angegriffen hatte und ich ihn nur mit Mühe zurückhalten konnte, habe ich ihn schweren Herzens in eine Jugendpsychatrie einweisen lassen, damit dort herausgefunden werden sollte, was nun wirklich mit ihm los sei. Nach einem halben Jahr dort kam er kurzfristig zurück, um aber dann in eine Wohneinrichtung zu gehen, wo sein Sozialverhalten geschult werden sollte. Die Ärzte hatten festgestellt, dass er wohl an einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung leiden sollte. Als er 18 wurde, hörte die Zuständigkeit des Jugendamtes auf und er wollte wieder zurück nach Hause, dem ich auch zugestimmt habe. Er hatte in der Einrichtung keine Probleme gehabt, da er sich doch meist zurückgezogen hatte, hatte aber dort auch die Realschule mit Zertifikat abgeschlossen, was für die Ärzte wieder ein Indiz für die Erkrankung war. Nur leider stimmte das alles gar nicht. Er fing dann eine Ausbildung an, die aber nicht funktionierte, weil er immer wieder umfiel. Und zuhause herrschte nur noch Krieg. Wir schrieen uns fast nur noch an, obwohl ich durch Ignorieren und nichts mehr für ihn zu tun, immer wieder versuchte, sein Verhalten mir gegenüber zu ändern. Es half alles nichts.
Während der ganzen Jahre waren wir immer wieder bei verschiedenen Psychologen in Behandlung. Erst im letzten Jahr haben wir endlich in einer Uni-Klinik einen Arzt getroffen, der kompetent war, herauszufinden, was meinem Sohn wirklich fehlt. Er hat das Asperger Syndrom, also eine Art Autismus. Ich musste lernen, damit umzugehen und seine Sprache zu verstehen, was gar nicht so einfach ist und selbst heute habe ich noch Probleme damit, obwohl es schon sehr viel besser geworden ist, weil wir beide wissen, was los ist. Er befindet sich nun in einer Therapie und ich hoffe, dass wir beide irgendwann gut damit umgehen können.
Ist etwas länger geworden, aber was ich dir damit sagen wollte: Gib nicht auf, geh mit deinem Sohn zu anderen Ärzten, lass andere Tests machen. Wende dich ans Jugendamt, an die Caritas, Kinder- und Jugendpsychatrie in Kliniken und andere Einrichtungen. Und ganz besonders: versuch, Theater mit ihm aus dem Weg zu gehen. Also wenn er unverschämte Bemerkungen macht, reagier nicht, geh in einen anderen Raum (Keller oder zur Not zur Toilette), wein dort oder kotzt dich aus, aber möglichst so, dass er es nicht mitbekommt. Und wenn du dich beruhigt hast, geh deinen normalen Aufgaben nach. Versorge ihn weiterhin mit allem wie Wäsche und Essen, aber ohne seine Wünsche zu berücksichtigen. Und wenn er nicht essen will, lass ihn einfach, geh nicht darauf ein oder versuche ihn zu überreden, er wird nicht verhungern. Ignoriere ihn nicht, aber lass dich auch nicht auf Streit ein. Das ist ein anstrengender Prozess für beide Seiten, am Anfang aber am meisten erst einmal für dich.
Du liebst ihn und diese Liebe wird dir die Kraft dazu geben. Und ich wünsche dir ganz viel Kraft, erst mal wieder deine Ruhe zu finden und dann mit ihm wieder klar zu kommen. Denk daran, du hast auch noch andere Kinder, die dich brauchen und unter dem leiden, was da bei euch abläuft.
Alles Liebe
Apri