Bei dir mag der Grund ein anderer sein. Aber ich würde daraus nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung schließen.
Ich bin Jahrgang 1963. Wir sind in der Grundschule von den Lehrerinnen noch dazu angehalten worden, über die Herkunft von Wörtern nachzudenken. Nicht gleich über die Etymologie, aber immerhin über die banale Tatsache, dass "hältst" von "halten" kommt (und die Konjugation "hälst" daher blödsinnig ist). Wir haben auch die Rechtschreibregeln so gelernt, dass wir sie uns einprägen konnten. Diese Erziehung wurde dann in der Unterstufe des Gymnasiums sowie zu Beginn der Mittelstufe vertieft. Wir wurden außerdem dazu erzogen, uns sprachlich so präzise wie möglich auszudrücken.
Dass wir von Anfang an dazu erzogen worden, strikt darauf zu achten, hat sich gelohnt. Sehr viele Kinder in meiner Klasse, nicht nur ich, waren in der Rechtschreibung sicher, zumindest größtenteils. Aus meiner Grundschulklasse sind übrigens wesentlich mehr Kinder zum Gymnasium gewechselt als zur Hauptschule. Maximal sechs oder sieben Kinder von rund 20 gingen zur Hauptschule, eine Schülerin zur Realschule. Alle anderen wechselten nach der 4. Klasse zum Gymnasium. Das war vor 50 Jahren sehr ungewöhnlich.
Von den Kindern, die zum Gymnasium gingen, habe alle das Abitur geschafft, und nur zwei brauchten einen 2. Anlauf dazu bzw. mussten eine Klasse wiederholen. Die meisten haben danach studiert - zwei davon Medizin, eine (ich) Jura, zwei BWL bzw. Wirtschaftswissenschaften, mehrere Ingenieurwissenschaften oder aber Meteorologie und Informatik. Vier Schülerinnen und Schüler aus meiner Grundschulklasse haben promoviert, eine davon sich auch habilitiert. Ihr Vater war Schlosser, die Mutter Schneiderin. Wir kommen überwiegend aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und sind in einer Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern aufgewachsen. Längst nicht alle Eltern hatten Abitur. Wie man sieht, kann man - abgesehen von bestimmten Behinderungen - sehr wohl seine Muttersprache auch im Schriftlichen beherrschen, wenn man denn will. Dazu muss man nicht aus hochwohlgeborenen Verhältnissen stammen.
Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere im Lateinischen, sind sehr hilfreich, um ein Sprachverständnis zu entwickeln. Ich hatte in der Schule auch Englisch, Latein, ab der 9. Klasse noch Französisch. Mein Vater konnte aus finanziellen Gründen nur zur Volksschule gehen, hatte außer im Russischen (Kriegsgefangenschaft) keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Seine Muttersprache beherrschte er allerdings trotzdem. Sein Vater übrigens auch, obwohl er nur ungelernter Arbeiter war und immer sehr bedauerte, keine weiteren Bildungsmöglichkeiten gehabt zu haben. Mein Opa machte im Erwachsenenalter sogar einen Kurs an der VHS, um in seiner Muttersprache noch sicherer zu werden. Einfach, weil es ihn interessierte. Welcher ungelernte Arbeiter macht das heute noch? Viele jammern nur über den bösen Staat und die böse Gesellschaft und darüber, dass sie nie eine Chance hatten.
Ausreden, warum man sich nicht um die Rechtschreibung kümmern könnte, lasse ich nicht gelten.