Lieber Gast,
ich habe im Alter von Fünf Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt, begangen von einem mir flüchtig bekannten Jungen, der nur einige wenige Jahre älter als ich und somit selber noch ein Kind war.
Die Frage, was dieses Erlebnis denn nun eigentlich war - harmloses Doktorspiel, oder sexueller Übergriff - hat mich später viele Jahre lang ganz stark gequält.
Es war mir unmöglich, mit irgendjemandem über das Ganze zu sprechen, da ich nicht einmal gewusst hätte, was ich eigentlich erzählen soll.
Unmittelbar nach dem Übergriff waren es in erster Linie Angst und Scham, die es mir verunmöglichten, meinen Eltern davon zu erzählen.
Ich verdrängte das Geschehene viele Jahre lang erfolgreich, doch mit dem Eintritt in die Pubertät und ersten Annäherungsversuchen von Jungs kamen die Erinnerungen schlagartig zurück.
Als die Bilder wieder da waren, empfand ich einfach nur grenzenlose Verwirrung.
Ich versuchte eine Erklärung für das Ganze zu finden, irgendeine Art von Kategorisierung… Eine Möglichkeit, dieses Erlebnis irgendwo einzuordnen.
Wie konnte es möglich sein, dass ein Kind einen sexuellen Übergriff begeht?
Zu dieser Zeit wurde diese Thematik kaum je öffentlich diskutiert und dies wiederum war für mich der Beweis, dass es "so etwas" offenbar gar nicht gab - und meine Gefühle, mein Schmerz, demzufolge "falsch" sein mussten…
Was ich im Bezug auf den Übergriff empfand waren Wut, Schmerz und Scham - aber das "durfte" ich ja gar nicht empfinden, weil ich kein Recht dazu hatte.
In den folgenden Jahren wurde das Thema von der Öffentlichkeit vermehrt aufgegriffen, da mehrere Fälle von massiver sexueller Gewalt unter Kindern durch die Medien geisterten.
Fälle, die man unmöglich als "normale Doktorspiele" bezeichnen konnte.
Ich begann, mich erneut mit der Thematik auseinanderzusetzen und las viel dazu.
Unter anderem stiess ich auf mehrere Artikel die erläuterten, dass nicht in erster Linie der Altersunterschied dafür massgebend ist, dass man von einem sexuellen Übergriff spricht - viel mehr ist es das Machtgefälle zwischen den Kindern.
Der Täter war in meinem Fall zweifelsohne noch ein Kind gewesen. Doch nichts an seinem Verhalten während des Übergriffes hätte man als "kindliche Neugier" interpretieren können.
Er war berechnend vorgegangen, hatte seine körperliche Überlegenheit mir gegenüber missbraucht und nicht zuletzt hatte er mir eindringlich gedroht, um mich einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.
Ich hatte mit meinen Geschwistern als Kind selber harmlose Doktorspielchen gespielt, geprägt von Neugier, Entdeckungsfreude und natürlich auch dem Reiz des Verbotenen.
Der Junge hingegen hatte während des Übergriffs Dinge nachgeahmt und versucht nachzuahmen, die ganz klar von einer erwachsenen Sexualität motiviert gewesen waren.
Sexuelle Handlungen, über die Kinder in diesem Alter kaum Kenntnis haben können - ohne, dass sie selber damit konfrontiert wurden…
Mehr durch Zufall erfuhr ich schliesslich, dass der Täter als Kind offenbar schweren Misshandlungen ausgesetzt gewesen war.
Es ist ein bekannter Umstand, dass Kinder, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden, diese Taten dann in bestimmten Fällen selber nachahmen.
Tatsächlich half mir dieses Wissen zuerst einmal kein Stück weiter - ganz im Gegenteil.
Nun hatte ich noch weniger das Recht Schmerz zu empfinden, da der Junge ja letztendlich selber auch nur Opfer gewesen war.
Dies bedeutete für mich, dass ich gar kein Anrecht auf meine Gefühle von Wut und Schmerz hatte, da ich dem Täter - selbst wenn ihm in seinem kindlichen Ausmass vielleicht bewusst war, was er da gerade tut, bzw. dass es falsch ist - keinen Vorwurf machen konnte.
Es hat viele Jahre gedauert bis ich realisiert habe, dass dies letzten Endes keine Rolle spielt.
Zumindest nicht für mich - nicht für meinen Schmerz und mein Anrecht darauf.
Denn selbst wenn es so ist, dass der Junge aufgrund seines Alters und seinem persönlichen Hintergrund nicht dazu in der Lage war, tatsächlich Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen, selbst wenn es so ist, dass er selber auch nur ein Opfer war und wir beide damals praktisch in dieser Konstellation gefangen waren: Es ändert für mich nichts daran, dass ich verletzt wurde und Schaden genommen habe.
Es gelang mir erst mit dieser Erkenntnis, die Dinge zu differenzieren.
Die Geschichte des Jungen, dass er selber Opfer war, dass ich ihm keine Schuld im eigentlichen Sinne geben kann: Das ist das eine.
Doch was das alles mit MIR gemacht hat, wie stark es MICH seelisch verletzt und traumatisiert hat - das ist das andere!
Ich habe für mich verstanden, dass ich ein Anrecht auf diese Emotionen habe, auch wenn es so ist, dass ich dem "Auslöser" des Ganzen, dem Täter, keine Schuld zuweisen kann…
Vieles an deinen Schilderungen erinnert mich somit an meine persönliche Geschichte.
Wie genau du dieses Ereignis aufarbeiten und wo du es letztendlich einordnen möchtest, kannst nur du ganz alleine entscheiden.
Für mich persönlich war die Aufarbeitung des Ganzen aus dem Grund enorm wichtig, da dieses Ereignis die eigentliche Ursache vieler späteren, selbstzerstörerischen Verhaltensweisen war - die mich dann wiederum erneut in Situationen gebracht haben, wo ich Opfer wurde…
Ich denke, die eigentliche Frage ist nicht in erster Linie, "was das nun war" - harmlose Doktorspiele, oder eben sexuelle Übergriffe - sondern: Was hat es mit dir gemacht?
Was hat es in dir ausgelöst, wie stark hat es dich beschäftigt, oder beschäftigt es dich am jetzigen Punkt deines Lebens?
Sich selber als Opfer zu klassifizieren, ist nicht in jedem Fall hilfreich.
Vielleicht möchtest du dich dagegen entscheiden, diese Vorfälle als Übergriffe zu betrachten und beschliesst, dass es für dich Grenzüberschreitungen waren, die sich nicht gut angefühlt, dich aber auch nicht ganz stark traumatisiert haben.
Meiner persönlichen Meinung nach waren diese Vorfälle solche, die mit harmlosen Doktorspielchen unter Kindern wenig zu tun haben.
Ich möchte dir an dieser Stelle aber auch nicht unter allen Umständen einreden, dass du als Kind Opfer von sexuellen Übergriffen wurdest.
Was ich dir hingegen gerne mitgeben möchte im Bezug auf deine Geschichte ist, dass du sorgfältig in dich hinein hörst.
Und dass du - solltest du mit widersprüchlichen Emotionen kämpfen - nicht glaubst du hättest kein Anrecht darauf, so und so zu empfinden, weil der Junge damals selber noch ein Kind war, oder weil ihr befreundet wart.
Ich rate dir, in dich selber hinein zu horchen und versuchen herauszufinden, wie stark dich das Ganze beschäftigt - oder eben belastet.
Falls Letzteres der Fall sein sollte und du spürst, dass deine Lebensqualität wirklich eingeschränkt ist aufgrund von den Erinnerungen an diese Vorfälle, könntest du dir überlegen, das Ganze beispielsweise einmal mit einem Therapeuten aufzuarbeiten.
Du könntest dich auch eine Beratungsstelle wenden, die darauf spezialisiert ist, mit Menschen zu arbeiten die während ihrer Kindheit oder Jugend solche Dinge erlebt haben.
Dort wird man dich auf alle Fälle ernst nehmen und versuchen, auf dich einzugehen - auch wenn du vielleicht denkst, dein Fall sei irgendwie "komisch" oder das seien ja "andere" Vorfälle gewesen, als wenn ein Kind z.B. von einem Erwachsenen missbraucht wird.
Ich weiss nicht genau wo du wohnst, aber im Internet wirst du viele Links finden, die dich auf die Websites von solchen Beratungsstellen leiten.
Wie bereits geschrieben: Letztendlich kannst nur du alleine entscheiden, wie du mit diesen Erinnerungen umgehen, oder ob du sie unter Umständen doch lieber so betrachten möchtest, dass es nicht "traumatische" Erinnerungen sind.
Dass du dich hier im Forum geäussert hast, war sicher ein mutiger Schritt und hier hast du auch die Möglichkeit, unverbindlich und anonym über deine Gefühle zu schreiben!
Ich wünsche dir alles Gute!