Ein absolut wertvolles Buch über das ich zufällig gestolpert bin, weshalb es hier vorgestellt werden soll wo vielleicht mehr mitlesen als in den Bücherthreads:
"Dieser Schmerz ist nicht meiner" von Mark Wolynn - Buch - 2017
Pflichtlektüre für jeden der an Angststörungen, Zwangsgedanken und -handlungen, Borderline, medizinisch nicht erklärbaren Depressionen, Verlustängsten oder selbstzerstörerischen Neigungen leidet, und auch für jeden der sich einfach für derartiges interessiert, weil der Autor nämlich nachweist, daß die Ursachen dafür oft nicht in dieser Person zu suchen sind, sondern in der Großelterngeneration, Stichwort: Weitervererbung erlittener Traumata per Epigenetik.
Darauf gekommen ist man durch die Forschung an überlebenden Holocaust-Opfern und ihren Nachkommen, wo die Enkelgeneration ungewöhnlich häufig derartige Leiden aufweist, und zwar auch dann wenn sie nie etwas von den Leiden ihrer Großeltern erfahren haben - es pflanzt sich übers Erbgut fort, die genauen Umstände kommen dann erst hinterher bei genauerer Familienforschung zu Tage.
Dazwischen mischen sich ein paar Fälle von Eltern-Kind-Entfremdungen aufgrund zu früher Trennung des Kindes von der Mutter, die von beiden Seiten falsch gedeutet werden und so ungewollt zu lebenslänglicher Entzweiung führen.
Ein Kapitel hätte meines Erachtens noch angehängt gehört, ich weiß nicht ob der Autor (Amerikaner) darauf nicht kam oder es für zu unpassend für seine (amerikanische) Leserschaft hielt, welches eine Überschrift wie "Zerbrechen der Kette" verdient hätte.
Er geht nämlich davon aus, daß ganz automatisch und immer eine (oft mehr oder weniger gut versteckte) Liebe der Eltern zum Kind da sein müßte, die man nur ans Licht holen muß, um den Knoten zu lösen - die Beiträge in diesem Forum hier aber beweisen immer wieder das Gegenteil, daß ein Kind den Eltern auch total egal sein kann, daß Liebe zwar meistens die Regel ist, aber von jeder Regel gibt es mehr oder weniger viele Ausnahmen.
Und wenn irgendwo der Wurm drin ist weil es nicht so funktioniert wie es sollte, auch in Familien, dann muß man nicht unbedingt wissen wo genau dieser Wurm ist oder wo er herkommt, es reicht daß man das fühlt.
Daher folgen viele Betroffene ihrem Gefühl, da sie die wahre Ursache nie erfahren, und behelfen sich auf ihre eigene Weise - indem sie die Kette des Wurms, der unguten Verhältnisse, zerbrechen, indem sie auf eigene Nachkommen die den Wurm, also irgendein Trauma der Vergangenheit erben und fortführen würden, ganz einfach verzichten.
Ein No-Go vermutlich aus Sicht eines Amerikaners wie Wolynn, bei uns aber durchaus üblich, wie man auch hier im Forum vielen Beiträgen entnehmen kann, wo Leute auf Kinder lieber verzichten als ihnen die eigenen empfundenen oder realen Belastungen, Baustellen und Krankheiten mit aufzuhalsen.
Meine Familie ist ein guter Beweis dafür, auch hier zieht sich nämlich ein Großmutter-Trauma durch bis zu den Enkeln. Die Großmutter mütterlicherseits war mit einem argen Pascha-Ehemann geplagt, der von ihr Kinder, nämlich Söhne und Erben, erwartete, aber sie hatte nach zwei vergeblichen Versuchen (nämlich beides "minderwertige" Töchter) den ganzen Komplex *Schwangerschaft/Geburt/ Kind aufziehen und trotzdem vom Mann keine Achtung kriegen weil ja kein Sohn* so dicke daß sie sich in eine Krankheit regelrecht flüchtete, die sie mit einer guten Ausrede vor dem Zwang einer weiteren Schwangerschaft bewahrte. Aber da sie selber nie realisierte oder realisieren wollte daß es sich um eine Flucht handelte, wurde sie diese Krankheit dann auch später, als er relativ früh gestorben war, nicht mehr los, denn die ständige Erinnerung an ihn - die Töchter! - blieb ja weiterhin vorhanden.
Tja, und das hat sich definitiv durchgezogen, denn die eine Tochter hat selber nie Nachwuchs bekommen, die andere, meine Mutter, hat Kinderkriegen ebenfalls als "Pflicht einer guten Ehefrau" verstanden (dank ihrer Mutter), aber dafür haben ihre Kinder, die Enkelgeneration der drangsalierten Großmutter, allesamt null Bock auf eigenen Nachwuchs, ich nicht und die drei Halbgeschwister auch nicht. (Auch mein Vater ist ein Fall im Sinne von Wolynns Buch, da er seine eigenen Eltern früh verlor und adoptiert wurde.)
Das ist das "Zerbrechen der Kette", ein Totalverzicht auf eigene Kinder und somit der Weitergabe des ererbten Traumas.