Hallo Balydis
Ich möchte gerne noch einmal etwas zum ursprünglichen Thema sagen.
Weißt Du, irgendwo ist das, was man so als Päckchen bei seiner Geburt mitbekommt, zum Teil eben einfach Glückssache. Sicher wird es Menschen geben, die in einem wohlhabenden Staat in einer reichen Familie geboren wurden, und keine Krisenzeiten oder Kriege in ihrem Leben miterleben mußten. Aber wieviele Menschen sind das schon?
Wenn ich mich einmal nur auf Deutschland und dort auf die beite Masse der Menschen beschränke, also auf Arbeiter und Angestellte, vielleicht auch Kleinunternehmer und heute auch Akademiker. Wie sahen die Lebensumstände dieser Menschen aus?
Ich bin 45 Jahre alt. Ich habe das Glück gehabt, dass meine Kindheit in die Zeit der großen Lohnerhöhungen gefallen ist. So um die 10% in einem Jahr waren häufig möglich. Es gab im Grunde alles zu essen, und ich hatte Spielzeug, soviel ich wollte. Beim Studium hatte ich halt Pech. Kurz vor meinem Studium wurde das Bafög als Volldarlehen eingeführt. Kurz nach meinem Studium wurde das wieder abgeschafft. So habe ich eben einfach mal 10.000 Euro mehr abzubezahlen, als die Menschen, die vor oder nach mir studiert haben. Aber immerhin dufte ich studieren.
Ich bin einer der letzten geburtenstarken Jahrgänge. 5 Jahre nach meiner Geburt hat sich die Geburtenrate fast halbiert. Für mich heißt das, wenn ich Rentner werde, wird die Rente so niedrig sein, wie niemals zuvor. Und wenn ich sterbe, sind die geburtenstarken Jahrgänge fast komplett mit mir verschwunden. Die Bevölkerungspyramide hat sich dann einigermassen normalisiert, die Renten könnten wieder normal ausfallen. Naja, da habe ich halt auch Pech gehabt.
Meine Brüder sind etwa 55 Jahre als. Wie schaut es da aus? Sie sind in den ersten Nachkriegsjahren geboren. Habe in ihrer Kindheit also noch die Jahre erlebt, wo die Löhne niedrig waren und das Essen knapp. Und Spielzeug war eher ein Luxus. Sie hatten das Glück, ihre Kinder in einer Zeit aufziehen zu können, wo es in Deutschland relativ gut lief. Aber wenn sie arbeitlos sein oder werden sollten, können sie einen Job meist für den Rest ihres Lebens vergessen. Und mit ihrer Rente sieht es auch nicht so rosig aus.
Menschen, die heute 65 Jahre alt sind, wurden im II. Weltkrieg geboren. Sie haben ihre Kindheit in Armut verbracht. In einer Zeit, wo zuerst alles in Trümmer zerbombt und dann wieder aufgebaut wurde. Eine strukturierte Schulausbildung war nicht die Regel. Ein Studium eher die Ausnahme.
Menschen, die heute 75 Jahre alt sind, wurden zu Beginn des III. Reiches geboren. Ihre Kindheit haben sie im Krieg verbracht. In der Angst, dass der nächste Bombenangriff ihr Ende sein könnte. Sie hatten das Glück, dass sie zum Kriegsende gerade noch so zu jung waren, um noch eingezogen zu werden. Diejenigen, die nicht ein Opfer der Bomben wurden, haben ihre Jugend in den Trümmern verbracht.
Menschen, die heute 85 Jahre alt sind, haben ihre Kindheit in einer Zeit verbracht, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Und sie durften im Krieg noch aktiv mitwirken. Danach Kriegsgefangenschaft. Wenn sie Glück hatten, kamen sie irgendwann zurück, in zerstörte Städte, in der Hoffnung, noch Verwandte vorzufinden. Aber eines hatten sie immerhin. Sie hatten eine stabile Rente.
Menschen, die heute 95 Jahre alt sind, haben ihre Kindheit sogar noch im I. Weltkrieg verbracht.
Wie sieht es mit den Menschen aus, die heute 20 Jahre alt sind? Kriege kennen sie nicht. Auch keine Trümmerlandschaft und keinen Wiederaufbau. Wirkliche Armut haben sie niemals kennen gelernt. Die Armut, von der heute oft gesprochen wird, ist mir der Armut der vergangenen Jahre gar nicht zu vergleichen. Sie haben Probleme, einen Ausbildungsplatz zu finden, Probleme, einen ersten Arbeitsplatz zu bekommen. In den ersten Jahren ihres Erwachsenenlebens treffen sie auf die höchste Arbeitslosenquote, die es seit vielen Jahren gab. Und wenn sie 40 Jahre alt sind, dann sind alle geburtenstarken Jahrgänge Rentner, wenn das Eintrittsalter nicht noch weiter hochgesetzt wird. Immerhin sollte ihre Rente gesichert sein, sofern sich das Rentensystem nicht wesentlich verändert.
Und wie schaut es in anderen Ländern aus? Die meisten Menschen werden in China oder Indien geboren. Möchtest Du dazu gehören? Oder wie wäre es mit einem arabischen Staat? Oder Afrika? Oder Südamerika? Sicher gibt es Länder, in denen man etwas mehr Glück haben konnte. Länder ohne Krieg, Länder mit weniger Krisen. Aber die sind eine Ausnahme. Und die USA? Klar hat man dort keinen Krieg im eigenen Land mehr erlebt. Aber das Sozialsystem ist dort für große Bevölkerungsschichten praktisch gar nicht vorhanden. Als Arbeitsloser lebst Du dort in Armut. Als Geringverdiener hast Du noch nicht einmal ein Anrecht auf medizinische Versorgung. Du mußt sie dann selbst bezahlen und sie Dir leisten können.
Das ist alles nicht so einfach, Barylis. Natürlich kannst Du Dir ein Land aussuchen, wo Du leben möchtest. Als Deutscher stehen Dir da viele Möglichkeiten offen. Aber ob Du das antriffst, was Du Dir erhoffst, ist noch die Frage. Und in Deutschland nennt man Ausländer, die das versuchen, meist Wirtschaftsflüchtlinge oder Scheinasylanten.
Das ging jetzt nicht gegen Dich, Barylis. Das waren nur meine Gedanken dazu. Fast jeder Mensch hat oder hatte irgendwo sein Päckchen zu tragen.
Günter