Josef Giger-Bütler, ein schweizer Psychotherapeut, der viele depressive Menschen behandelt hat, hat das Buch "Sie haben es doch gut gemeint. Depression und Familie" geschrieben. Er hat viele Hypothesen anderer Leute zur Ursache von Depressionen überprüft und sie insofern verworfen, als viele äußere Stressfaktoren im Leben von Erwachsenen und Kindern zur Entstehung von Depressionen beitragen können, aber nicht die eigentliche Ursache sind. Seiner Meinung nach ist der tiefste Grund jeder Depression eine ständige Überforderung in der Kindheit. Das Kind hat nicht bekommen, was es gebraucht hat, musste selber Mutter spielen, die Eltern haben das Kind unterdrückt und emotional ausgebeutet, es war ein anderes Geschwister da, das sehr viel Aufmerksamkeit und Pflege gebraucht hat, die Eltern waren psychisch krank etc. Diese überforderten Kinder, die keine richtige Kindheit haben, passen sich an und tun so, als sei alles in Ordnung, um wenigstens ein bisschen Lob oder zumindest keine Strafe zu erhalten. Schneiden sich dabei aber von ihren eigenen normalen Bedürfnissen und der Umwelt ab, weil sie eben zu niemandem gehen können, der ihre tiefsten Bedürfnisse erfüllt. Oder ihnen auch nur zuhört. Sie beißen die Zähne zusammen und halten durch, haben aber mit der Zeit immer weniger Energie und brechen irgendwann zusammen - die Depression ist durch den Zusammenbruch dannauch öffentlich sichtbar.
Ich denke, der Autor hat damit zumindest in sehr vielen Fällen Recht.
Ich beschäftige mich ein bisschen mit Narzissmus, und er spielt meiner Meinung nach bei der Entstehung von Depressionen oft eine Rolle - in dem Sinne, dass die Kinder, die später im Leben depressiv werden, oft einen oder zwei narzisstische Elternteile haben. Besonders wichtig ist dabei: Es gibt nicht nur sog. grandiose Narzissten (siehe Trump), sondern auch andere Formen, den sog. weiblichen oder verdeckten Narzissmus (diese Leute sind eher ängstlich und niemals oder nur selten nach außen hin großspurig, leben aber von ständigen heimlichen Phantasien der eigenen Wichtigkeit und Bedeutung und beuten auch andere Menschen aus). Es gibt auch den heimtückischen Typus, Leute, die lügen und täuschen, um zu bekommen, was sie wollen. Oder völlig überzogene Ansprüche an andere stellen. Narzissten unterdrücken auf die eine oder andere Weise andere Leute, um sie emotional (eventuell auch in anderen Bereichen) auszubeuten. Oft sind die Opfer die Kinder und der jeweilige Partner. Kinder schlagen, mit Gewalt drohen, sie mit bösen Blicken einschüchtern, mit Strafen drohen, wenn das Kind nicht generell der "Untertan" bleiben will - das sind alles Beispiele von Narzissmus. Natürlich gehört dazu, dass Narzissten bestimmte Vorstellungen haben, wie ihr Kind zu sein hat. Sie empfinden ihre Kinder als Erweiterung ihrer selbst, als Teile ihrer selbst, nicht als eigenständige Personen.
Ich will damit nicht sagen, dass Kinder alles tun sollten, was sie wollen und dass man als Elternteil nie Nein sagen soll. Aber wenn das Kind in den wichtigsten Bereichen selbstverständlich nichts zu sagen hat, wenn man sich nicht bemüht, die Wünsche und Ansichten der Kinder altersgerecht bei allen oder vielen Entscheidungen miteinzubeziehen, wenn es sich also um ein eindeutiges Herrschaftsverhältnis handelt und es den Eltern möglichst "immer" emotional gut gehen muss, weil sie ja wichtiger als die Kinder sind, dann handelt es sich um Narzissmus. Um Unterdrückung und Ausbeutung. Und nicht um Liebe. Auch wenn manche Elternteile ihre Kinder noch so sehr mögen - wenn das Kind nichts zu sagen hat, wenn Kritik an den Eltern und Streit mit den Eltern tabu sind, wenn vor allem Erfolg, Leistung, Schönheit oder Glanz eine Rolle spielen und die Gefühle der Kinder den Eltern wurscht sind oder unterdrückt werden sollen, dann sind die Eltern Narzissten. Sie sind mehr oder weniger krank oder jedenfalls nicht gesund.
Narzissmus wird in der US-amerikanischen Klassifikation der Krankheiten (DSM) durch neun Kriterien bestimmt; wenn man mindestens fünf hat, liegt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vor - die nur von einem Psychiater mit besonderer Qualifikation diagnostiziert werden kann. Wenn jemand weniger als fünf dieser Kriterien aufweist, handelt es sich um einen narzisstischen Persönlichtkeitsstil, den Graubereich zwischen Gesund und Krank.
Dies ist ein Thread, in dem es ums Mutmachen geht, um Dinge, die helfen, nicht so sehr um die Ursachen, denke ich. Aber mir hat es sehr, sehr geholfen zu erkennen, dass meine Eltern Narzissten sind bzw. waren, und eben nicht gesund! Ich hatte früher immer das Gefühl: Ich bin nicht richtig, meine Eltern sind "komisch", haben aber schon "irgendwie" recht, und zu erkennen, dass meine Eltern riesengroße Fehler gemacht haben, dass ihr Koordinatensystem und sie selbst nicht gesund, nicht normal waren und dass es eine Fachbezeichnung für ihre Krankheit gibt, war eine riesige Erleichterung für mich. Und auch wenn ich anderen Leuten zuhöre und manchen von ihnen sage, dass ihre Eltern vermutlich narzisstisch sind, erlebe ich ebenfalls eine unglaubliche Erleichterung beim Gegenüber. Wenn in einer Familie in erster Linie Leistung und Erfolg etc. wichtig sind, und nicht die Gefühle, nicht der Mensch an sich, dann ist das eine Art Gehirnwäsche. In Wirklichkeit ist es genau andersrum.
Dies ist meine Meinung, und sie passt auch zu dem, was Giger-Bütler schreibt. Natürlich sind nicht alle Eltern narzisstisch, aber unter den Elterntypen, die er beschreibt, gibt es einige Narzissten, auch wenn er generell keine Fachbegriffe nennt. Ich übernehme die Typenaufzählung wörtlich von Giger-Bütler:
- Mütter, die sich kümmern und "nur das Beste wollen" (z. B. bezüglich Kleidung, Aussehen, Wohlverhalten)
- Väter mit hohen Erwartungen
- autoritäre Väter
- starke, bestimmende Mütter
Soweit Giger-Bütler.
Von Narzissten kann man nur weggehen, weil sie ihre eigenen Fehler um nichts in der Welt sehen und schon gar nicht ändern wollen. Nur im äußersten Notfall, wenn die Partnerin/der Partner mit Scheidung droht oder der Narzisst Angst um seinen Arbeitsplatz haben muss, wenn der Druck also extrem wird, dann sind manche (!) von ihnen bereit, eine Therapie zu machen.
Mir hat es sehr geholfen, den Kontakt zu meinen Eltern viele Jahre lang abzubrechen. Meine Mutter hat eine Therapie gemacht und sich sehr geändert, sie ist heute mir gegenüber überhaupt nicht mehr narzisstisch, und wir verstehen uns gut. Mein Vater hat sich zwar auch zum Besseren geändert, aber im Wesentlichen vertritt er mir gegenüber immer noch eine narzisstische Haltung. Den Kontakt zu ihm habe ich vor Jahren für immer abgebrochen. Es ginge mir auf jeden Fall schlechter, wenn ich immer wieder zu spüren bekommen würde, dass er meine Gefühle nicht ernst nimmt und bestimmte psychologische Wahrheiten einfach nicht wahr haben will.
Ich muss gestehen: Auch ich hab mich früher manchmal narzisstisch verhalten. Und es war gut, dass mir andere Leute klargemacht haben bzw. ich selbst gemerkt habe, dass ich mich in dieser Hinsicht ändern muss und es dann auch getan hab.
Wenn ich neue Leute kennenlerne, bin ich vorsichtig und checke etliche Dinge ab, natürlich auch etwaige narzisstische Tendenzen, und wenn da was ist, bin ich an demjenigen nicht mehr interessiert und halte mich von ihm fern. Im Netz gibt es etliche Seiten von Menschen, die früher sehr unter einem Narzissten, oft ihrem Partner, zu leiden hatten, teilweise wegen seines Verhaltens in schwere Depressionen verfallen waren, sich dann trennten und dann zur Warnung und zur Unterstützung von Narzissmusopfern eben diese websites ins Netz gestellt haben. Wenn man sich auf solchen Seiten umschaut, kann man manchmal schier nicht fassen, was da steht.
Wenn es da draußen und in der Familie "Feinde im normalen Alltag" gibt - dann sind es, außer Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, die Narzissten (die ja oft beim ersten Anblick charmant, gutaussehend, intelligent, unterhaltsam und sonstwie "toll" erscheinen) . Wer ein gutes Leben will, sollte sich im r. L. von ihnen unbedingt fern halten. Die kennen, zumindest was ihre wichtigsten emotionalen Bedürfnisse anbelangt, wirklich nur sich selbst. Und ich hab bewusst "Feinde" geschrieben. Wer auf euch herumtrampelt, wer keine Kritik an sich selbst duldet, ist auf jeden Fall euer Feind, egal, was er sonst verspricht und was er beteuert. Brecht den Kontakt ab. Sucht euch unbedingt Freunde, die euch wirklich mögen, die euch respektieren und Mitgefühl zeigen können.