Gesellschaftlich-historischer Teil
Meine Sicht (der niemand zustimmen muß) ist die folgende:
Die Frage nach dem Gewissen, der inneren Kraft, die hilft, den destruktiven Kräften in uns entgegenzuwirken, hat sich anscheinend in den letzten Jahrhunderten deutlich abgeschwächt. Wir erinnern uns sicher an Martin Luther, der die Kirche an den Pranger stellte. Er wurde gefragt, warum er das tut. Er antwortete: „Ich kann nicht anders.“
Es gab mal eine Zeit, in der die Menschen das Bild Gottes vor Augen hatten, vor dem sich das ICH rechtfertigen mußte. Gott gewährte Gnade und Versöhnung. Das Wissen um die Aussagen Jesu ermöglichten einen Glauben, mit dem man sich von Gott geliebt fühlen durfte. Dies stärkte die eigene Liebe. Die tätige Liebe war nach Martin Luther sogar die Bestätigung des Glaubens.
Wie auch immer – dann hat sich dieser Glaube abgeschwächt. Könige bzw. weltliche Herrscher – aber auch die Kirche – hatten den Glauben an Gott für sich so vereinnahmt, dass sie sich zwischen Gott und den Menschen schoben. Es war ein Mißbrauch des Glaubens festzustellen. Menschen erkannten zunehmend, dass der jeweilige Herrscher nicht gottähnlich ist. Und mit der Abschaffung des Herrschers wurde auch der Glaube – zumindest tendenziell – gleich mit abgeschafft.
Im Drang, seine Unmündigkeit abzustreifen, ersetzte der Mensch den Glauben durch das Vertrauen in seine eigene Vernunft. Der technische bzw. wissenschaftliche Fortschritt schien die Richtigkeit der Vorgehensweise auf großartige Weise zubestätigen. Der Mensch entwickelte aus seinem Selbst ein Übermenschen-Selbst.
Die Naturwissenschaften gelangten zu doppelter Bedeutung.
Einerseits lieferten Sie eine bislang unbekannte grandiose Selbstbestätigung desMenschen.
Andererseits gelangten sie zu einer neuen Autorität. An diese knüpften sich Glaubensbedürfnisse.
Durch den wissenschaftlichen Fortschritt bestärkt, redete sich der Mensch ein, Freiheit und Macht stetig zu erweitern. Gleichzeitig konnte er auch anbeten, verehren, wenn auch nur die Spiegelung seines Größen-Selbst. Zu gerne übersah der Fortschrittsmensch seine eigene finstereSeite, seine Destruktivität. Aus dem Grund erfasste und erfasst der Mensch nur widerstrebend die Kehrseite des Fortschritts, wie z.B. die irreversible Naturzerstörung.
Solange der Mensch noch an Gott glaubte, konnte er sich das eigene Böse, die Macht der Destruktivität eingestehen. Es ist zentrales Element des christlichen Glaubens, vor Gott als Sünder hinzutreten und auf Seine Barmherzigkeit zu bauen. Der Mensch konnte seine Schuld aussprechen. Er wusste, dass er Gehör und die Aussicht auf Gnade und Vergebung findet.
Mit der Abschaffung von Gott gibt es diesen Weg zurBewältigung des Bösen nicht mehr. Heuteist es nicht mehr chic, über eigene Destruktivität zu sprechen. Anstatt Aufklärung über das Böse, über die Destruktivität in uns, anzustreben, summieren sich die Versuche der Verleugnung und der Verdrängung. Das Böse bzw. die Macht der Destruktivität – aus dem Inneren des Menschen kommend – wird relativiert.
So kann man hören oder lesen: die Macht der Destruktivität bzw. die Folgen …. werden sich mit Fortschreiten der Kenntnisse auflösen, unterliegen lediglich einem kulturellen Wachstumsprozess. Im übrigen seien das Böse und die Macht der Destruktivität lediglich ein erfundenes Herrschaftsmittel der Kirchen.
Was über viele Jahrzehnte, ja, Jahrhunderte hinweg, stattgefunden hat, ist ein riesiger Selbstbetrug. Mit der psychologischen Absetzung Gottes und der Inthronisierung des Menschen konnte – mußte sich der Rebell der Neuzeitsündenfrei erklären. Sünde? Was ist das? Gibt es nicht !!
Diese Haltung ist mir sehr verständlich, denn der Mensch ohne Gott steht ohne Chance auf Versöhnung und ohne Gnade da. Der Mensch erfindet ein ideales Selbstbild, welches ihn vor unerlöster Schuld bewahren soll.
Durch diese gesellschaftsweite Verdrängungsmanöver bewirkt nur Eines: Die Unsichtbarmachung gefährlicher Kräfte. Und die Folgen dieses Prozesses spüren und sehen wir zunehmend weltweit.