Hallo tork,
ich selbst finde die sogenannte "Identitätspolitik" wichtig und sinnvoll, es kommt aber natürlich auf das Maß und den Umgang an. Ich war bei den von dir erlebten Situationen nicht dabei, deswegen kann ich wenig dazu schreiben, kann aber verstehen, dass es nervig und stressig ist, wenn manche Themen überstrapaziert werden.
Natürlich gibt es auch Männer, die eine schwierige und schmerzhafte Geschichte hinter sich haben, zB durch Krankheit oder Armut. Wenn "Identitätspolitik" (meiner Ansicht nach) "richtig" gemacht und gedacht wird, ist sie intersektional, das heißt, unterschiedliche Diskriminierungsformen werden zusammengedacht und in ihrer Wechselwirkung bedacht, zB hat es ein armer, weißer Mann mit Behinderung im Leben oft schwerer als eine weiße, durchschnittlich wohlhabende, gesunde Frau (zumindest rein statistisch).
Schlussendlich sind es Kategorien, um Gesellschaft und vor allem (Un-) Gerechtigkeit versteh- und besprechbar zu machen aber natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss und es ist nicht sinnvoll, diese Kategorien immer und in jeder Situation überzubetonen,weil es sich ansonsten natürlich abnutzt und die Realität auch verflacht und vereinfacht abbildet.
Das Problem an Kategorien ist, dass sie von Menschen erdacht sind. Es spiegelt eben nicht die Realität wieder, sondern lediglich die subjektive Perspektive derjenigen, die sie erdacht haben.
Und selbst wenn eine Statistik einem recht gibt, dass es irgendwo eine Häufung gibt, gibt es bei einelnen Elementen doch immer Abweichungen. Manche Abweichungen sind derart stark, dass sie kaum oder gar nicht mehr dem Durchschnitt der Statistik entsprechen. Leider wird das häufig vergessen. Gerade deswegen sehe ich solche Verallgemeinerungen als falsch an.
Ab und zu auf männliche Privilegien hinzuweisen, kann aber durchaus sinnvoll sein, weil es nunmal sehr viele Männer gibt, die ziemlich unreflektiert damit umgehen, zB immer den größten Redeanteil bei Diskussionen haben, nie Angst im Dunkeln haben & nicht verstehen, dass es für Frauen anders ist, usw. Ob das bei dir so ist, weiß ich natürlich nicht..
Vieles was als Privileg ausgelegt wird, sind eben nicht Vorrechte, sondern Menschenrechte, die jedem Menschen zustehen. Unreflektierte Menschen habe ich sowohl bei Männern als auch bei Frauen erlebt.
Auch könnte ich massig Dinge aufzählen, bei denen Männer aufgrund ihres Geschlechts Nachteile haben. So werden in der Ukraine zum Beispiel junge, wehrpflichtige Männer, die nicht in den Krieg ziehen wollen, strafrechtlich verfolgt. Hier ein Video einer Youtuberin über 40 weibliche "Privilegien" (wie gesagt finde ich den Begriff total falsch angewendet):
Weil in der heutigen Gesellschaft ständig von den "Privilegien der Männer" gesprochen wird, oft unreflektiert und pauschal, schauen wir uns heute die Privile...
www.youtube.com
Und natürlich gibt es auch viele Männer, die Angst im Dunkeln haben. Männer sprechen nur nicht so oft darüber oder geben es eher weniger zu. Angst im Dunkeln zu haben ist evolutiv sinnvoll gewesen, weil gerade im Dunkeln viele Gefahren für unsere Vorfahren lauerten. Wer keine Angst im Dunkeln mehr hat, der hat sich das abtrainiert oder es wurde ihm abtrainiert (es sei denn irgendwo gibt es einen Gendefekt, der die Angst beseitigt hat). Und das können sowohl Männer als auch Frauen machen. Und ja, ich habe auch Angst im Dunkeln.
Außerdem ist es zwar richtig, dass es Männer gibt, die einen größeren Redeanteil haben, weil sie es so gelernt haben. Aber es gibt auch Frauen, die schon früh lernen wie sie einen großen Redeanteil haben können und dies nicht reflektieren. Männer sind hier zwar in der Überzahl. Aber es gibt eben auch Männer (wie unter anderem mich), denen sehr früh (oft unter Strafandrohung) beigebracht wurde, dass sie still zu sein haben. Eine Verallgemeinerung sehe ich hier also auch nicht als sinnvoll an.
Sich in linken Kontexten zu engagieren, heißt im besten Fall die Bereitschaft für viel Auseinandersetzung und Diskussion und auch Lust, neues zu lernen. Wenn du das Gefühl hast, zu Unrecht in Schubladen zu landen, in die du nicht passt und die deiner Lebensgeschichte nicht gerecht werden, sprich darüber. Aber sei auch bereit, zuzuhören und etwas neues zu lernen, vielleicht gibt's da auch noch manches, das du noch nicht verstanden oder zu ende gedacht hast. Die Welt und gesellschaftliche Debatten sind komplex und vielschichtig.
Ansonsten möchte ich mich gerne
@Leah L. anschließen und dich ermutigen, nicht so schnell aufzugeben. Vielleicht passen du und die anderen Aktivist*innen nicht in allen Haltungen zusammen, aber vielleicht sind eure gemeinsamen Ziele es trotzdem Wert, weiterzumachen?
Wie gesagt sehe ich mich nicht als links, sondern mittig, an. Ich hatte auch gehofft, dass die Letzte Generation nicht so weit links sei wie sie es anscheinend ist. Ich bin für eine offene Gesellschaft, linke Positionen hingegen sind oftmals nicht offen.
Bei mir selbst geht es auch nicht "nur" um Werte oder lediglich ein "nerven". Es geht eher um die Ohnmacht, die ich mein Leben lang zu spüren bekam und jetzt auch hier wieder zu spüren bekomme, während andere aus ihrer Ohnmacht eine bestimmte Machtform entwickeln zu versuchen und versuchen diese Macht auch mich spüren zu lassen. (Nur um dem Vorzubeugen: Ich selbst will keine Macht über andere, lehne das ab.) Und wenn man jemanden sagen kann, dass er über bestimmte Dinge nicht sprechen darf oder eine bestimmte Frisur verstecken soll, weil er ein Merkmal aufweist, ist das Machtausübung.
Wenn dein Trauma nicht mit bedacht und du unachtsam in Kategorien gepackt wirst, finde ich das auch falsch.
Vielleicht magst du dich ein bisschen in das Konzept der intersektionalität einlesen und mit den anderen darüber ins Gespräch gehen?
de.m.wikipedia.org
Das Ding ist, dass man Menschen nicht ansehen kann, ob sie Traumata haben oder nicht. Und viele möchten gar nicht darüber sprechen, weil sie beschämt davon sind. Oder weil man ihnen eingeimpft hat, dass man darüber nicht spricht. Da gibt es viele Gründe. Auch mir geht es so, dass ich es ungern raushängen lasse. Wenn man jemanden zum ersten Mal trifft, weiß auch niemand wie der andere Mensch zuzvor gelebt hat. Das kann man gar nicht von der Hautfarbe abhängig machen. Auch beim Geschlecht ist es schwierig. Hat sich dieser Mensch vielleicht schon immer gegen Ungerechtigkeit in allen Formen zur Wehr gesetzt, war daher vielleicht Außenseiter und wir nund auch noch ungerechterweise in eine bestimmte Kategorie gepackt? Vielleicht sagt dieser Mensch gerade nun etwas dagegen, weil er auch diese Kategorie, in die er gepackt wurde, als ungerecht sieht?
Es sind letztlich vor allem die Verallgemeinerungen, die ich kritisiere. Wenn gesagt wird, dass es mehr weiße Männer als schwarze Frauen in Machtpositionen gibt und dies kritisiert wird, habe ich nichts dagegen. Aber wenn dies nun so verallgemeinert wird, dass weiße Männer immer Macht hätten und schwarze Frauen nicht, ist das unhaltbar für mich. Es gibt genauso das Gegenteil, auch wenn es weniger häufig vorkommt.
Und nochmal: Im Übrigen ist eben Diskriminierung etwas anderes als Privilegisierung. Menschenrechte sind kein Privileg. Diese hat jeder Mensch per Geburt. Wenn man sie wegnimmt, handelt es sich allerdings um Diskrimierung. Somit kann ein Mensch natürlich verschiedene Formen der Diskrimierung erfahren, wie in Deinem Link dargestellt.