Ok, dann werfe ich halt auch ein paar Spekulationen in den Raum:
Was wäre, wenn die Kinder unter der bisherigen häuslichen Situation sehr gelitten hätten? Was, wenn sie froh wären, einer ewig nörgelnden, fordernden und unzufriedenen Mutter zu entkommen? Wenn sie ihren Vater neu als liebevollen Menschen in einer positiven Beziehung erlebten, wo sowohl er als auch sie geschätzt werden? Wenn sie einfach nur Kinder sein dürften anstatt Hilfspfleger und Haushaltshilfen? Gehört und gesehen werden wollen?
Prinzipiell ist alles möglich, auch in völlig ungewohnte Richtungen. Eine Kindheit mit einer schwerkranken und psychisch anstrengenden Mutter, in der sie möglicherweise noch parentisiert werden, bei einem häufig abwesenden Vater, das ist wohl nicht gerade der Traum von Kindheit. Vielleicht kann ihnen Dorfmädchen da ein anderes Role model bieten und ihnen eine andere, möglicherweise bessere Beziehung vorleben. Nichts ist unmöglich.
Auch und besonders ein pflegender Ehepartner hat seine Ressourcen und Grenzen, selbst in der besten und liebevollsten Ehe. Werden diese Grenzen regelmäßig überschritten, artet die Beziehung aus in Tyrannei. Manche Partner harren selbstlos aus, bis sie selbst zugrunde gehen. Manche retten wenigstens die Beziehung durch getrennte Lebensbereiche. Jede Ehefrau, die ihren schwerkranken Mann letztendlich ins Heim abgibt, tut dies unter fürchterlichen Schuld- und Versagensgefühlen. Und leichtfertig erfolgt dieser Schritt sicher nicht, wenn sie dann von Grundsicherung leben muss, weil sebst die großzügigste Rente des Mannes für den Heimaufenthalt draufgeht. Ich erlebe da die unterschiedlichsten Arrangements und Dramen bei meinen Patienten.
Und genau das gestehe ich auch Dorfmädchens Partner zu, egal, wer hier wie schäumt. Auch er ist ein Mensch mit eigenen Grenzen, Wünschen und Bedürfnissen. Kein Mensch ist verpflichtet, sich für einen anderen aufzuopfern und zu vernichten. Das geht langfristig nur bei liebevollen und dankbaren Partnern. Aussenstehenden steht jedenfalls darüber kein Urteil zu.
Es wird sich für alle Beteiligten viel verändern und dabei könnte es auch durchaus sein, dass alle als Gewinner aus dieser Situation heraus gehen. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Ehefrau um Selbständigkeit und Autonomie bemüht, und sei es mit fachlicher Hilfe. Bestes Beispiel ist ein Patient von mir, der mit seiner MS nur noch den Kopf bewegen kann. Er verschlingt Unmengen an Büchern, die er mit der Zunge umblättert, und manche Videos am PC, wenn er die Maus mit dem Kinn bedient. Seine Wohnung ist entsprechend umgebaut und elektronisch ausgerüstet, die Versorgung übernimmt ein ambulanter Pflegedienst. Es geht auch mit schwerer MS sehr viel, wenn man denn leben will und nicht nur Opfer sein.
Nothing and nobody is perfect, but perhaps better than the last.