Vielen Dank, deine Perspektive hilft sehr! Ich kann nicht nachfühlen, wie er sich fühlt, ich habe es zwar lange hautnah mitbekommen, aber habe mich noch nie so gefühlt, wie er es gerade vermutlich tut.Ich vermute dass der Grund weniger in einer Feigheit, sondern darin liegt, dass der Betroffene aufgrund der eigenen Trauersituation bei sich selber keine Ressourcen für weiteren zu starken Abschiedsschmerz spürt, und den Abschied in dieser Situation besonders schnell und unemotional vollziehen möchte, bevor er seinen letzten Gang zum Elefantenfriedhof antritt.
Seine Gedanken sind gerade nicht rational, sondern von einer persönlichen Weltuntergangsstimmung
dominiert. Man darf bei der Bewertung ja nie vergessen, dass er sich in seinem Wahn gerade nicht in eine Zukunft ohne Jamie94 verabschiedet, sondern in den - aus seiner Perspektive - sicher geglaubten Tod.
Das eigentliche Missverständnis entsteht ja durch die plötzlich vollkommen ungleiche Lebenswahrnehmung, hier die Zurückgestoßene, die sich fragt wie sie ohne die Freundschaft weitermachen soll, und dort der ExKrebs-Angstpatient, der bereits mit dem Leben abgeschlossen hat.
Er wäre vernünftigen Argumenten gegenüber vermutlich auch nicht zugänglich.
Ich kann mir richtig vorstellen, dass er auf den Vorwurf: "Nach Deiner Nachricht war mein Tag komplett gelaufen!" innerlich mit "Ja, bei mir ist allerdings mein ganzes Leben gelaufen!" reagieren würde.
Sobald der Kumpel realisiert, dass sein Gang zum Elefantenfriedhof aber noch viele Jahre entfernt liegt, und er wieder ernsthaft gesund ist, dann gleichen sich diese Lebensrealitäten auch wieder an, und dann ist ebenfalls wieder ein harmonischer Umgang miteinander möglich.
Er hat mir mal gesagt, dass es ihm mit mir manchmal schwerer fällt die Fassung zu behalten, weil wir uns eigentlich so nah stehen und so gut kennen und er deshalb so schnell emotional wird. Wir haben einige gemeinsame oberflächliche Freundschaften und ich hatte schon oft die Situation, dass sie mir erzählt haben, dass sie überrascht wären, wie gut er drauf ist trotz der Situation, und ich habe mich immer gewundert, weil ich wusste, dass es ihm beschissen geht. Mir ist auch aufgefallen, dass er sich eher an die oberflächlicheren Freunde hält, wenn es ihm besonders mies geht. Kennst du das auch?
Vor ein paar Tagen hat er mir erklärt, wie das ist für ihn, wenn er alleine im Krankenhaus liegt und den ganzen Tag Leute anrufen und er über seine Krankheit reden muss. Und dass er dann auflegt und daran denkt, wie die Leute jetzt einfach weiter leben und er ist immer noch in der Situation. Und hat mir erzählt, dass wenn er es nicht schafft, mich zu updaten, dann weil ständig Leute nach Updates fragen und er irgendwann die Muße verliert. Ich habe das gut verstanden und ihm gesagt, dass er sich bitte nie unter Druck fühlen soll und dass es okay ist, wenn er seine Ruhe braucht. Da klang noch nichts nach einem dauerhaften Abschied, eher im Gegenteil, wir haben besprochen, wie wir mit der Situation umgehen werden, wenn es wirklich wieder auf eine Chemo etc. hinauslaufen sollte.
Für mich war das immer eine Freundschaft die bestehen bleibt. Nicht, weil wir beide niemand anderen oder besseren haben, sondern weil ich immer das Gefühl hatte, wir können uns aufeinander verlassen.
Für mich wäre es nie eine Option gewesen, ihn aufzugeben, auch wenn es so hart war in letzter Zeit. Dafür hat man ja Freunde, in Guten wie in Schlechten Zeiten. Dass er mich jetzt so ohne Weiteres wegschustert trifft mich deshalb umso mehr. Wenn er gesund wäre, wäre ich glaube ich deutlich nachhaltiger verletzt. Aber seine Gefühlslage kann denke ich nur jemand wirklich nachvollziehen, der selbst einmal in dieser Lage war, deshalb erlaube ich mir da nicht wirklich ein Urteil.