Liebe Themenstarterin: Arbeiten und Depression, oh wie sehr liegen diese Dinge beieinander, wie sehr sind diese doch in sich verzahnt...
Wer ist benachteiligt, wer wird sich durchsetzen?
Leben wir in Deutschland in einem neoliberalem Raubtierkapitalismus?
Dies ist die Dialektik der Macht und der Machtbewahrer, nicht zuletzt deren unbewußter Helfer. Die Arbeit als Therapie! Nein, konkreter: als physischer wie psychischer Ermüdungsprozess, der vor tiefen Denkprozessen - die durchaus auch in negative Sphären führen können - bewahren soll. Hier der abgearbeitete Beschäftigte, durch Streß geplagte und übermüdete Angestellte, der fern jeglicher Spontanität seinen immergleichen Lebenstakt vollziehen muß, als der gesunde Mensch; dort der ausgeruhte, in Gedanken schwelgende Zeithabende, der zu oft grausamen Einsichten kommen muß, vernebelt er sein Denken nicht mit Nebensächlichkeiten. Anders, in marxistischer Anlehnung: Der entfremdete Mensch ist eigentlich der Mensch wie er sein soll, wie man ihn, aus einem Herrenzynismus heraus, haben möchte.
Gottfried Benns zynisch-provokativer Ausspruch trifft die Denkweise des kapitalistischen Massenstaates Deutschland: "Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück!" - Und selig die Armen am Geiste, denn ihnen wird - mangels Kritikfähigkeit - ein Himmelreich auf Erden vorgegauckelt. Und wenn schon zeithabend, so soll sich der Mensch im Angenehmen winden, auf das er die Ordnung nicht zu hinterfragen beginne.
Ach, wer kennt nicht den Ausspruch: "Du denkst zu viel!". Der Depressive erkennt aber in vielen Fällen dieses große und verlogene Schauspiel. Da kapselt er sich ein, gibt sich biedermeierisch ins Innere gekehrt, flüchtet zuweilen in bessere Welten, die Ausdruck seiner eigenen Enge sind. Nicht er krankt, sondern sein Umfeld ist von ihm als krank entlarvt worden. Anstatt das Krankhafte um sich herum zur Heilung zu führen, führt man den Erwachten zurück ins Kranke. Aus der anfänglichen Depression, die aus Resignation stammte, wird nun ein depressiver Verfolgungswahn. Denn an den Kragen will man den Sehenden - die Blinden bekommen keine Sehhilfe.
Der äußere Zwang und die depressiven Anflüchte die daraus entstehen waren in allen Zeiten Nährboden der Utopie. Die soziale und politische Utopie wird sinngemäß als Nicht-Ort übersetzt und daraus leitet der blinde Realismus ab, das Gedankenkonstrukt ist bestenfalls schwammige Phantasie. Doch dabei wird vergessen, so unrealistisch die Utopie im ersten Augenblick erscheinen mag, ist sie doch auf realem Fundament gebaut, denn sie verneint alles, was im Hier und Jetzt kritisierbar wurde und verkehrt Fehlentwicklungen ins Bessere.
Kurzum: Depression und Utopie gehen Hand in Hand, werden aber, da sie aus zwei verschiedene Kategorien der Wissenschaft stammen, nicht in Verbindung gebracht. Es mag auch Depression daher stammen, daß dem Menschen die Heilsvorstellung eines gerechten Jenseits entzogen wurde. Die Vernunft hat dem Menschen vieles geraubt, wenig gegeben. Dies war niemals Ansicht der Aufklärung, denn sie wollte Mythen ersticken, aber neue Ansatzwege eröffnen. Erstickt hat sie, den Raum zum vernunftbasierenden Ausgleich hat der "Wille zur Macht" verhindert. Konkreter: Sie hat Religion geächtet und der Lächerlichkeit preisgegeben, aber ist am Machtdenken der Machthaber gescheitert und hat kein Himmelreich auf Erden erbauen können.
Zur Depression einige Zeilen Heiko Ernsts ("Wie uns der Teufel reitet): "Depression, so argumentieren einige Sozialpsychologen, ist die Folge einer tiefen Ernüchterung, eines besonders klaren Blicks auf das Getriebe der Welt um uns herum. Depressive Verzagtheit entsteht durch die Erkenntnis, dass die Welt unverbesserlich und auch durch noch so große Anstrengung nicht zum Guten zu verändern ist...
Also: Depressive sind im Grunde Hyperrealisten, sie sind nicht mehr fähig zu jenen lebensnotwendigen positiven Illusionen, die uns - entgegen der Wahrscheinlichkeit - immer wieder neu beginnen und auch das unmöglich Erscheinende versuchen lassen. Depressive haben die rosarote Brille abgelegt, sie sind „sadder but wiser“ - aber ihre Klugheit macht sie krank. In der Depression liegt die Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit: Es hat doch alles keinen Zweck! Positive Illusionen, das zeigt die psychologische Forschung, sind die permanenten und systematischen Selbstüberschätzungen, die wir brauchen, um morgens überhaupt aufzustehen. Nur wenn wir uns mehr zutrauen, als es unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht, fassen wir Lebensmut und riskieren etwas. Zum gesunden Menschsein gehört offenbar ein Mindestmaß an Verkennung von Realitäten und fast mutwilliger Unterschätzung der Schwierigkeiten. Die Passivität, die mit einer Depression häufig einhergeht, ist nach den Erkenntnissen der neueren Forschung in erster Linie ein Selbstschutzmechanismus der überforderten Psyche. Das erschöpfte Selbst zieht sich in eine Schonhaltung zurück.
Hier soll nicht die Relativierung der Depression stattfinden, denn sie kann durchaus krankhafte Züge annehmen. Nur muß hinterfragt werden, ob Depression Krankheit ist, oder deren äußerlichen Ursachen nicht eigentlich Patienten wären. Denn eines ist gewiß: Der Depressive ist beneidenswert nicht zu beneiden, denn er hat Erkenntnisse, die soviele suchen und in Esoterik, Glauben, Diesseitszugewandtheit nie finden, während er gleichzeitig daran zu zerbrechen droht.
Ist der Ungebildete per se benachteiligt, wurde hier gefragt. Dies kann m.E. verneint werden. Allerdings gibt es nach dem Gesellschaftsforscher Prof.Dr. Birg in Großstädten einen Trend, bei dem Jugendliche mit Migrationshintergrund jedwede Bildungangebote kollektiv ablehnen.
Natürlich, jede(r) ist seines Glückes Schmid. Vieles kann dabei durch Bildung unterstützt werden. Diese Angebote müssen unbedingt genutzt und auch nachgefragt werden. Niemand sollte sich fallen lassen und am Diesseits resignieren...
So, liebe Themenstarterin, hoffe mit meinen Zeilen etwas geholfen zu haben.
I.R.Gendwer